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Ausgabe:

1995

Spalte:

555-557

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Erne, Thomas

Titel/Untertitel:

Lebenskunst 1995

Rezensent:

Dietz, Walter R.

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 6

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rimentell kann die Fülle der natürlichen Dinge nicht mehr von
einem einzelnen untersucht werden: Es bedarf der vereinigten
Anstrengung der Community of investigators. In ihr werden
Hypothesen formuliert, zwischen denen auszuwählen nun zum
Feld des Eklektik-Programms wird. Insofern verschafft die
1697 erschienene „Physica Electiva sive Hypothetica" dem
Begriff neue Reputation. Hier scheiden sich denn auch Eklektik
und Synkretismus endgültig voneinander, öffnet sich doch
erstere einer arbeitsaufwendigen Methode, die mit dem Dreischritt
von Phänomenbeschreibung, Hypothesenbildung und
auswählender Beurteilung eine Kriteriologie entwickelt. Sturms
Erörterung der Hypothesen gibt eine allgemeine Methodologie
der Auswahl.

Die begriffsgeschichtliche Forschung kann zu guter Letzt
eine Definition der Eklektik nur eklektisch versuchen: Eklektik
erscheint als eine Haltung der Selbständigkeit, als eine Denkart
und als Methode. Aus diesen Elementen kombiniert sich ihr je
spezifisches Selbstverständnis auf unterschiedliche Weise. A.s
Arbeit endet dort, wo die Faszination durch die geschichtliche
Forschung an die systematische Frage einer Kriteriologie solcher
Auswahl stößt. Sie endet mit einem .vielleicht, vielleicht
auch nicht': „Vielleicht muß die Philosophie die Idee der
Eklektik... den Naturwissenschaften... überlassen; vielleicht
sollte sie sich aber um ihrer selbst willen weigern, dies zu tun"
(670).

Frankfurt Michael Moxter

One, Paul Thomas: Lebenskunst. Aneignung ästhetischer
Erfahrung. Ein theologischer Beitrag zur Ästhetik im Anschluß
an Kierkegaard. Kampen: Kok Pharos 1994. IX, 157
S. gr.8° = Studies in Philosophical Theology, I l. Kart. Dfl
65.-. ISBN 90-390-0202-9.

Ei nes Buch ist die nur leicht veränderte Version seiner Dissertation
(Frankfurt/M., WS 92/93, bei I. U. Dalferth, Korreferent
H. Deuser). Es ist primär ein Beitrag zur Problematik einer
theologischen Ästhetik angesichts des Selbstverständnisses
moderner Kunst und erst in zweiter Linie ein Fachbeitrag zu
Kierkegaard (im folgenden: SK). Ausgangspunkt der Überlegungen
ist das gestörte Verhältnis des Protestantismus zur bildenden
Kunst (Störung-Entfremdung-Freisetzung-Wiederentdeckung
). Trotz des Verlustes von Einheitlichkeit und Begreifbarkeit
versucht moderne Kunst „Autonomie" und „Eigensinn"
zu bewahren. Der Theologe Erne will ihr dabei helfen. Es geht
ihm nicht darum, den Sinn für das Schöne kritisch gegenüber
der Moderne zu rehabilitieren, sondern ihren autonomen
„Eigensinn" (auf der Basis der Kenosis-Christologie) „kritisch
zu bewahren" (Rückentext). Insofern das Kunstwerk auf Wahrnehmung
zielt, ist ästhetische Erfahrung als „Lebenskunst"
gefordert („Aufhebung der Kunst im Leben", 102). Daß sich
gerade die moderne Kunst dem Begreifen entzieht, also „sperrig
" ist. läßt sich nach Erne gerade mit Hilfe SKs erfassen,
wonach sich die Kunst als Lebenskunst durch subjektive Aneignung
vollendet. Es geht SK um die Integration sinnlicher Welterfahrung
in einen kontinuierlichen Freiheitsvollzug (57). Das
Leben selbst ist das Kunstwerk. Dies entspricht romantischer
Auffassung, wird aber korrigiert durch SKs These der Notwendigkeit
von endlicher Konkretion (gegen die Verflüchtigungstendenzen
der Freiheit).

Auch das abstrakte moderne Kunstwerk stellt solch eine
Konkretion dar, aber als sperrige, eigensinnige, nicht auf den
Begriff zu bringende. Wenn SKs Grundthese gegen Hegel lautet
, daß sich das Leben (aufgrund seiner Kontingenz und Zukunftsoffenheit
) nicht schlüssig auf den Begriff bringen läßt,
dann legt sich E.s These in der Tat nahe, derzufolge gerade die

sich dem Begriff entziehende Kunst in ihrem Aneignungssinn
für die Freiheitsgeschichte fruchtbar gemacht werden kann.
Dazu aber muß gezeigt werden, daß nicht im Sinne Adornos
Theologie eine sublime, verkappte, undurchschaute Form von
Ästhetik ist, sondern umgekehrt Ästhetik als latente Form von
Theologie aufzufassen ist (Adorno gleichsam vom Kopf auf die
Füße gestellt). Ferner muß E. zeigen, daß H. E. Bahrs Kritik an
SK ins Leere geht: SK „dämonisiert" die Kunst keineswegs
(56), sondern transformiert sie in Lebenskunst. In ihr geht es
um eine ungegenständliche, existenzbezogene {selbsthafte stall
verdinglichte) Aneignung von Endlichkeit. Im Vorfeld dieser
Überlegungen werden ästhetische Theorien diskutiert (Henrich,
Bubner, Jüngel, Grözinger u.a.), wobei der Erfahrungsbegriff
Be-deutung erlangt: Ist Glaube als „Erfahrung mit der Erfahrung
" interpretierbar (Jüngel), dann ist er auch auf ästhetische
Erfahrung hin auszulegen (33f, 46f vgl. Herms). Um Kunst, die
auf Wirkung bedacht ist, philosophisch fruchtbar zu machen, ist
ihr Aneignungssinn im Kontext von Lebenskunst zu analysieren
(65; 69-90). Ihr geht es - am Lieblingsbeispiel der Ehe - um
„gelebte Schönheit" (69 cf. 80f. 86f), wie SK gegenüber der
Romantik verdeutlicht. Wenn Erne von SKs „Rekonstruktion"
(69, 103), Überbietung (74. 80) oder Vertiefung (70. 96)
romantischer Lebenskunst spricht, dann schwächt er den
Gegensatz hier (vgl. 103. anders 91 ff, 101) allerdings ziemlich
ab. Das Grundthema dieses Abschnitts (II. 69-90) ist die Liebe:
im romantischen Sinn unendliche Sehnsucht, im ethischen Sinn
der Versuch, Ewigkeit, endliche Freiheit und konkrete Sinnlichkeit
zu vereinen. Ethisch hat die Liebe ihren „Rettungsring"
(82) im Religiösen, was sich in Dank und Vorsatz manifestiert.
Damit wird die sittliche Kategorie der Ehe auf ein Absolutes
hin transzendiert und zugleich die menschliche Liebesbc/ic-
hung verwandelt und „veredelt" (84,104,108). Im Gegensai/ /n
Kants „interesselosem Wohlgefallen" wird die ästhetische
Erfahrung bei SK (EO II, B) „auf eine Erfahrung mit dieser
Erfahrung hin überschritten" (85 Anm.). SKs Ethiker zeigt dem
Äslhcliker, daß die „wahre Kunst" nicht auf Eroberung und
Vernichtung zielt, sondern auf „aneignende Bewahrung" (88).
Der Impuls der Liebe wird aufgehoben (101), d.h. bewahrt, aber
seine sinnliche Ausgangsposition (erste Liebe) transzendiert.
Voraussetzung dafür ist die „Negation aller ästhetischen Unmittelbarkeit
" (91), wie sie sich durch die ethische Selbstwahl vollzieht
. Dies behandelt E. (III.) als Die religiöse Dimension der
Aneignung (91). Dieses kurze Kapitel (91-99) enthält Andeutungen
zum theologischen Freiheitsbegriffs SKs, der Gottes
Allmacht nicht als „Durchsetzung", sondern Selbstzurücknahme
voraussetzt (98 vgl. Ringleben. Kodalle). Gerade im Blick
auf das „Christusparadox", das - „rational faßbar" (98) - „freie
Hervorbringung" (97) sein soll, bleibt vieles unklar. Aneignung
sei bei SK so gedacht, „daß sich der konstitutive Bezug auf
einen objektiven Inhalt auflöst" (97). Damit wird Glaube als
rein immanenter Selbstvollzug anvisiert - Adornos Unterstellung
„objektloser Innerlichkeit", die deutsche SK-Interpretatio-
nen nachhaltig in die Irre geführt hat, läßt grüßen. Entsprechend
unklar isi das Verständnis der Freiheit: Einmal gründet sie ..jenseits
" ihrer selbst (94). dann doch auf ein „ihr vorausgehendes
Anderes" (ebd.). Diese Unklarheit deutet sich bereits zu Beginn
(17ff) in der dunklen Rede vom „unvordenklichen Grund" an.
Hier zeigt sich auch eine problematische Vagheil der Formel
„Erfahrung mit der Erfahrung": Diese kann im Zirkel rein auf
sich gestellter „Selbstheit" befangen sein; dann aber manifestiert
sie eher langweilige Selbslbespicgelung, als (Haube (im
Sinn des extra se vgl. 105, 116). Ist Glaube ..selbsthalte Rezeption
" (3f), ist er überhaupt „ein Fall von Rezeption" (127)? Hier
konzentrieren sich theologische Anfragen, die E. übergeht.

Teil IV (100-123) beinhaltet Rekapitulationen. SKs Auffassung
des Schönen (was seine Teleologie in sich selber hat) wird
entfaltet, ihre ethische Usurpierung festgestellt (1171), jedoch