Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1995

Spalte:

545-546

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Streiff, Stefan

Titel/Untertitel:

"Novis linguis loqui" 1995

Rezensent:

Seils, Martin

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

545

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 6

546

Jahrzehnten vor dem englischen Bürgerkrieg einen Schwerpunkt
bilden: einige Abschnitte aus der ..Allgemene Geschiede-
nis der Nederlanden'" geben einen - übrigens recht konventionellen
- Gesamtüberblick über die Jahrzehnte zwischen 1579
und 1648.

Allgemeineres Interesse verdienen ein Aufsatz über "Con-
eepts and practice of fasting in the Reformation" (I 83-202), der
hauptsächlich die reformierten Kirchen behandelt, sowie einige
der Beiträge zur Calvinforschung, vor allem " The limits of civil
disobedience in Calvin*s last-known sermons" (73-97). eine
Untersuchung der Predigten nach 1559, in denen vor dem Hintergrund
des dramatischen Geschehens jener Jahre in Frankreich
in vorsichtigen Ansätzen ein Recht des einzelnen Christen
zum Widerstand gegen eine gottlose Obrigkeit angedeutet wird.

Göttingen Bernd Moeller

Streiff, Stefan: »Novis Unguis Loqui«. Martin Luthers Disputation
über Joh 1.14 »verbum caro factum est - aus dem Jahr
1539. Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993. 251 S.
gr.8° = Forschungen zur syst. u. ökum. Theologie. 70. Kart.
DM 68.-. ISBN 3-525-56277-2.

Luthers Disputation über Jo 1,14 ist wahrscheinlich am I 1. Januar
1539. jedenfalls aber zwischen Mitte Dezember und Anfang
März 1539 gehalten worden. Der AnlaB lag möglicherweise
in Problemen, die die stärkere Wiederaufnahme aristotelischer
Philosophie durch Melanehthon und seine Schüler im
Bereich der Wittenberger Theologie aufgeworfen hatte. Denn
es handelt sich in den Disputationsthesen nicht, wie das in den
Titel aufgenommene Bibelzitat Jo 1,14 nahelegen könnte, um
christologische Grundfragen, sondern um Fragen nach der
Wahrheit in Philosophie und Theologie sowie danach, ob mit
philosophischen Denk- und Sprachvoraussetzungen Wahrheit
in der Theologie sachentsprechend faßbar und aussprechbar
sei.

Luther hat das in seinen der Disputation zugrundeliegenden
42 Thesen für die reformationszeitlichen Verhältnisse verneint.
Er tut dies zunächst in der Diskussion von christologischen und
trinitätstheologischen Syllogismen, die bei formal richtiger Formulierung
dennoch zu theologisch absurden Konsequenzen
ftthren. Fr zeigt es weiterhin an Beispielen, die deutlich machen
sollen, daß auch innerhalb insbesondere philosophisch-mathematischer
Aussagenbereiche Inkommensurabilitäten eintreten,
wenn man Aussagen verschiedener Sinn- und Geltungsbereiche
miteinander vermischt. Fast scheint es. als wolle Luther die
These von einer doppelten Wahrheit in Philosophie und Theologie
vertreten, jedoch stellt sich heraus, daß er eigentlich wohl
nur sagen will, die Dinge seien nicht aufeinander beziehbar,
man könne in der Theologie nicht mit philosophisch-aristotelischer
Dialektik arbeiten, sondern müsse hier „mit neuen Sprachen
reden" (Th. 40), die von der „Leidenschaft (affectus) des
Glaubens" (Th. 42) getragen sind.

Die Zürcher theologische Promotionsarbeit von Stefan
Streiff. die sich diesen Thesen Luthers widmet, hat zunächst
textkritisch gearbeitet, wobei sieh zwar nur eine kleine Korrektur
gegenüber dem WA-Text herausstellt, aber noch einmal
deutlich wird, daß die Hermelinksche Gesamtarbeit an den Disputationen
Luthers irgendwann einmal einer wirklich historisch
-kritischen Revision bedürfen wird (zti der Rudolf Mau in
Band 5 der Luther-Studienausgabe vorzügliche Grundlagen
geschaffen hat). Die Arbeit hat dann eine gründliche Philosophie
- und theologiehistorische Erkundung zu den in Luthers
fliesen aufgegriffenen Argumenten angestellt, bei der sich
ergibt, daß Luther vor allem d'Ailly und Biel im Visier hat, aber
die Sorbonne, der Luther die These von der Wahrheitskonsonanz
in Philosophie und Theologie vorwirft, diese These so gut
wie sicher nicht vertreten hat. In diesen Bereichen trägt die
Arbeit alles Wünschenswerte zur Inhalts- und Hintergrundserklärung
von Luthers Disputationsthesen bei.

Im dritten Teil seiner Arbeit holt St. dann weit aus und will
das hermeneutische Problem behandeln, das hinter den Disputationsthesen
steht. Fr schließt dabei an Luthers Aussage an. in
der Theologie sei „mit neuen Sprachen" (Luther übersetzt aber
Mk 16,17 konstant mit „mit neuen Zungen"!) zu reden, und formuliert
das Problem nun sehr weitgreifend als dasjenige, „wie
einst fixierte Rede wieder zu ansprechender Rede werden kann"
(115). Dabei sehließt er sich an semiotische Gedankengänge an,
die der Literaturwissenschaftler Johannes Anderegg in „Sprache
und Verwandlung" (1985) zur „literarischen Ästhetik" entfaltet
hat.

Hier werden „instrumentale" und „mediale" Sprache unterschieden
, und zwar so. daß „instrumentale" Sprache sich im
Bereich fixierter Gegebenheiten bewegt, während „mediale"
Sprache in einem diesen Bereich transzendierenden Sinnbildungsprozeß
entsteht und dabei „poetisch" oder „ästhetisch"
wirksam wird. St. parallelisiert das mit der „instrumentalen"
spätscholastischen Wissenschaftssprache einerseits und Luthers
Forderung nach dem Reden mit „neuen Zungen" im „Reich des
Glaubens" andererseits, meint aber offenbar Differenzen von
Wissenschaftssprache und Glaubenssprache überhaupt. Er untersucht
in diesem Zusammenhang Luthers implizite und explizite
Äußerung zur „neuen Sprache" von den Psalmenauslegungen
bis zu den Disputationen und findet, daß Luther die von
ihm - wie St. meint - geforderte „Glaubenssprache" eng an ein
christologisch bestimmtes Schrift-„praescriptum" (143/44) anbindet
und in die verlorengegangene paradiesische Einheil von
Sache und Wort zurückführt. Die von hierher zu gewinnende
..mediale" und „ansprechende" Sprache vermag das Personzentrum
des Menschen zu ergreifen und es verwandelnd zu erneuern
. „Theologie ist so nur als Reflexion des Glaubens möglich,
nicht mehr aber als Wissenschaft" (238).

Ganz abgesehen davon, daß das Problem des Verhältnisses
von wissenschaftlicher und verkündigender Sprache als neuzeitliches
Problem der Theologie in einem gewissen Engschluß
zwischen Luther und Anderegg hier merkwürdig minimiert zu
sein scheint (nur anmerkungsweise und nicht weiter bedacht
wird der Dogmatik in der Glaubenssprache dann doch einmal
ein „Hin und Her zwischen Medialität und Instrumentalität"
erlaubt. 206. Anm. 283), und auch abgesehen davon, daß dies
alles weit über den mit den „Wahrheits'-Verhältnissen beschäl
tigten Problemhorizont der lutherschen Disputation hinausführt,
kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß ein Luther
eher fernliegendes gedankliches Bezugssystem hier zur Lutherinterpretation
Verwendung findet.

Anderegg gehl es um eine die Fixierungen der Alltagssprache transzen-
dierencle und verwandelnde, sinnerschließende Sprache, vorwiegend im
ästhetischen, aher auch im religiösen Bereich. Luther geht es. jedenfalls in
der Disputation zu Jo 1,14. darum, ein „unter das Urteil der menschlichen
Vernunft" (Th. 6) gefangengenommenes Wahrheitsverstiindnis als für die
Theologie unbrauchbar zurückzuweisen und stattdessen ein WahrheitSVerständnis
zu fordern, das dem „Reich des Glaubens" (Th. 23) angemessen
ist. Es ist ohne Zweifel interessant und vielleicht auch fruchtbar, sieh von
den semiotisehen Grundgedanken Andereggs zu Gedanken über bestimmende
Dimensionen religiöser Sprache anregen zu lassen. Es mag ebenso
interessant und fruchtbar sein, von Luthers Andeutung über die „neuen
Zungen" im Reich des Glaubens in den Schlußthesen seiner Disputation her
über sprachtheologische Bezüge in Luthers Theologie nachzudenken. Daß
beides so unproblematisch zusammengebracht werden kann, wie St. das
angenommen hat. überzeugt nicht. Es handelt sieh bei dieser Arbeit um ein
gewiß anregendes hermeneutisches Experiment, bei dem aber die unmittelbare
Textinterpretation der Thesenreihe Luthers zu Jo 1,14 wichtiger sein
dürfte als die daran angeschlossenen hermeneutischen Erwägungen zur
..medialen" und so „neuen" Glaubenssprache.

Jena _ Martin Seils