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Ausgabe:

1995

Spalte:

539-541

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Backus, Irena

Titel/Untertitel:

La patristique et les guerres de religion en France 1995

Rezensent:

Dingel, Irene

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 6

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spricht von „invitus velle", Abaelard jedoch davon, daß man einwilligen
kann in den Zwang, etwas nicht zu wollen und doch zu
tun („nolens et coactus"). Bei Peter von Poitiers finden wir die
Unterscheidung von „volo" und „vellem"; damit will er Augu-
stins Vorstellung von einem latenten Willen gerecht werden.
Summen des frühen 13. Jh.s gebrauchen generell „vellem" synonym
mit Ausdrücken wie velleitas, voluntas imperfecta, voluntas
incompleta oder voluntas semiplena. Auch sie wollen damit
Augustins Vorstellung von einem latenten Willen entsprechen.
„Das augustinische Begriffsgefüge ist also mehr oder weniger in
der mittelalterlichen Diskussion über die Ethik des Aristoteles
vorausgesetzt". Der Vf. ist aber davon überzeugt, daß sich die
augustinische Vorstellung signifikant vom Begriff der prohaire-
sis in der aristotelischen Psychologie unterscheidet (84f.).

Nachdem 1246/47 durch Robert Grosseteste die Nikomachi-
sche Ethik übersetzt worden war, wurde sie schnell im Abendland
bekannt. Er übersetzte akrasia mit Incontinentia, epithymia
(nicht epithumia!) stets mit coneupiscentia. Der Vf. stellt fest,
daß „die augustinische Tradition in Grossetestes Übersetzung
dadurch durchdringt, daß coneupiscentia nicht deutlich von
Incontinentia abgehoben wird" (87f.).

Der erste Kommentator von akrasia ist Albertus Magnus. Er
merkt, welche Eigentümlichkeit dieses Wort bei Aristoteles hat.
So unterscheidet er sehr sorgfältig zwischen dem Sinn, den
Incontinentia bei Augustin und bei Cicero hat. Thomas' Erklärung
dagegen ist zwiespältig, in seinem Ethik-Kommentar
folgt er Albert, in der Summa theologiae und in De malo aber der
nicht-aristotelischen Sicht, er hat „eine zweistufige Erklärung
von akrasia". (123, 189) Walter Burleigh präsentiert eine sehr
originale Lösung des Problems, wie akrasia richtig zu verstehen
sei: Er führt den logischen Grundsatz ein, daß Willigsein (Willing
) als ein vorausgehender Wille nicht unbedingt auf einen
Willen schließen läßt, der Folgen hat. Gerald Odonis müht sich
um einen mittleren Weg zwischen der aristotelischen und der
augustinischen Position; John Buridan benutzt die skotistisch-
anselmianische Willenstheorie, Wille ist bei ihm eine rationale
und sich selbst bestimmende Möglichkeit.

Das Problem vom Willen und seinen Konsequenzen hat also
seinen Ursprung in Augustins Verständnis vom bedingten Willen
(velleitas). Der Vf. weist nach, daß die Meinung von Thomas.
velleitas sei synonym mit Aristoteles Verständnis vom Willen,
unmöglich ist. Thomas und Albert verstehen velleitas als ein
latentes Verlangen, das ein bedingtes Urteilsvermögen voraussetzt
. Erfreulicherweise werden unbekanntere Denker, die aber
Wichtiges zum Problem beigetragen haben, in die Untersuchung
einbezogen.

An einem Beispiel hebt der Vf. deutlich hervor, welche Bedeutung
Aristoteles und Augustin für das mittelalterliche Denken
haben, wie zuerst Augustin das Denken bestimmt, dann Aristoteles
, doch dieser weithin in einer semiaugustinischen Deutung.
Diese wird aber dem eigentlichen Verständnis des Aristoteles
nicht gerecht.

Freiberg/Leipzig Karl-Hermann Kandier

Kirchengeschichte:
Reformationszeit

Backus, Irena: La Patristique et les guerres de religion en
France. Etüde de l'activite litteraire de Jacques de Billy
(1535-1581) O.LS.LB., d'apres le MS. Sens 167 et les sources
imprimees. Paris: Institut Etudes Augustiniennes 1993. 207 S.
gr.8° = Collection des Etudes Augustiniennes. Serie Moyen
Age-Temps Modernes, 28. ISBN 2-85121-134-X.

In den vergangenen Jahren ist die Frage nach dem Umgang mit
den Kirchenvätern in den Schriften der Reformatoren und ihrer
Gegner im 16. Jh. verstärkt in die wissenschaftliche Diskussion
gekommen. Die von Irena Backus vorgelegte Untersuchung stellt
einen beachtenswerten Beitrag dazu dar. Sie eröffnet mit ihrer
Darstellung der patristischen Aktivitäten eines französischen
Benediktiners sozusagen den Blick hinter die Kulissen, denn hier
geht es weniger darum, aufzuzeigen, in welcher Weise und in
welchen Zusammenhängen man Väterzeugnisse zur Argumentation
heranzog, sondern aus welchem historisch-sozialen Kontext
heraus überhaupt Vätereditionen zustandekamen. Jacques de Billy
wird dazu als repräsentativer Vertreter eines an der Patristik
interessierten Gelehrten in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s herangezogen
. Unter sorgfältiger Auswertung seiner Korrespondenz in
Ergänzung zu der von seinem Zeitgenossen Jean Chatard verfaßten
Biographie wird die Arbeit Billys analysiert und im Blick auf
ihre Zielsetzungen bewertet. Die im Titel genannten Stichworte
„Patristik" und „Religionskriege" beschreiben deshalb lediglich
die beiden Pole, zwischen denen sich Leben und Arbeit des
Gelehrten einordnen lassen. Freilich ist der eigentliche Wirkungsbereich
Billys durchaus die Patristik; die Religionskriege
kommen jedoch nur als historischer Gesamtrahmen in den Blick.

So ist denn auch der zweite Teil der Studie, der Jacques de
Billy als Übersetzer und Editor der Werke von Gregor von
Nazianz. Johannes Damascenus. Johannes Chrysostomus, Isidor
von Pelusium sowie seine Arbeit an Irenaeus von Lyon vor
Augen führt, der interessanteste. An der Übersetzung und Edition
der Schriften Gregors von Nazianz, die als das Hauptwerk
Billys gilt, werden die Bedingungen für die Entstehung einer
solchen Väteredition exemplarisch deutlich. In propagandistischer
Zielsetzung, nämlich zur Bekämpfung der calvinistischen
Häresie konzipiert, erstellte Billy 1569 eine lateinische Übersetzung
, die sich an eine gebildete Leserschicht auch von Laien
richten sollte. Daß man lateinische Übersetzungen im 16. Jh.
generell dem griechischen Text gegenüber vorzog, hatte seine
Ursache aber vor allem in finanziellen Gründen. Die Drucker
sahen Schwierigkeiten darin, griechische Ausgaben zu verkaufen
. Als dann wenig später eine Ausgabe von dem mit dem Calvinismus
sympathisierenden Gräzisten Johannes Löwenklau auf
den Markt kam. veranlaßte dies Billy, ein Gegenprojekt in
Angriff zu nehmen. Die Rivalität mit dem konfessionellen Gegner
erweiterte die ursprünglich apologetisch-polemische Zielsetzung
nun um einen literarischen und wissenschaftlichen
Aspekt. Jetzt wurden auch einzelne griechische Passagen der
lateinischen Übersetzung gegenübergestellt und abgedruckt, um
die sprachliche Überlegenheit und wissenschaftliche Korrektheit
der eigenen Ausgabe gegenüber der des Gegners deutlich
vor Augen zu führen. Es ging darum, der Kirche die „kompletteste
und orthodoxeste Edition" (108) der Schriften Gregors zur
Verteidigung des wahren Glaubens gegen die Häretiker zur
Verfügung zu stellen. Daß zusätzlich auch die römische Kurie
(Korrespondenz mit Antonio Carafa und Gulielmo Sirleto)
Interesse an den Aktivitäten Billys zu zeigen begann, gab seinen
Editionsarbeiten einen neuen Wert. Billy wurde zum „offiziellen
" Übersetzer (117) der Kurie, seine Arbeiten zu Werkzeugen
der nachtridentinischen Reform und Gegenreformation.

Diesen Weg, der von der ursprünglich nur apologetischen
Zielsetzung bei der Erstellung von Vätereditionen zur Textkritik
in Auseinandersetzung mit einem Gegner und zum Bemühen um
größtmögliche literarische bzw. sprachliche Präzision als Zeichen
der Überlegenheit führt, zeigt B. auch im Zusammenhang
mit weiteren durch Billy erstellten Editionen auf. Im Zuge der
Erarbeitung seiner Chrysostomusausgabe setzte sich Billy in
Kontrast zu Erasmus. Der von dem Calvinschüler Nicolas des
Gallars herausgebrachten griechisch-lateinischen Ausgabe von
Irenaeus' Schrift „Adversus haereses" begegnete Billy mit einer
neuen lateinischen Übersetzung, um einer calvinistischen Aneig-