Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1995

Spalte:

536-537

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Löwe, Heinz

Titel/Untertitel:

Religiosität und Bildung im frühen Mittelalter 1995

Rezensent:

Haendler, Gert

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

535

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 6

536

schungsleistungen liegen, erhält hier im Blick auf Nord- und
Osteuropa die richtigen .internationalen' Dimensionen: englische
und griechische Einflüsse (letztere in den älteren Lehrbüchern
fast unbekannt) werden vorgestellt, z.B. ostkirchliche
liturgische Einflüsse auf Cluny (62), Meinwerks Dombau mit
griechischen Bauleuten (89). Die schon im 10. Jh. überschätzte
Rolle Magdeburgs als Missionszentrum wird relativiert: Roswitha
von Gandersheim hatte gute Quellen, „aber Magdeburg
kommt bei ihr nicht vor" (72). Eine mit Tellenbach ausgesprochene
Wertung, „daß die alte abendländische Reichskirche des

10. und beginnenden 1L. Jh.s besser war als die vielen und lauten
Rufe nach einer Reform der Kirche vermuten lassen" (33),
durchzieht das Werk.

B. Die Reichskirche von Heinrich ü. bis zu Heinrich III.
(1002-1056) setzt Schwerpunkte im Mönchtum und in der Krise
der Reichskirche in Italien. Hervorzuheben seien im einzelnen
die Entstehung der Zölibatsforderung, gerade nicht sexualethisch
, sondern erbrechtlich motiviert, die grundsätzliche Kritik
der frühmittelalterlichen Kirche an der Sklaverei (94-97),
der Pontifikat von Papst Leo IX. (1049-1054) als Wendepunkt
in der Geschichte von Sacerdotium und Imperium. Ein Mönch
wie Petrus Damiani, der ein Jahrhundert prägte, mußte gewiß in
mehreren Kapiteln begegnen. Die Vorgeschichte der Kreuzzüge
blitzt auf. Der merkwürdige Anschluß an altkirchliche Papstnamen
wird nach Hergemüllers „Geschichte der Papstnamen"
(1980) erläutert: Victor, Silvester, Clemens, Damasus - alle als

11. ! Die neuen „revolutionären" Papstwahlmodalitäten sprengen
schließlich die Reichskirche und läuten eine neue, bis heute
fortwirkende Geschichte des Papsttums ein. Hallers Wort zum
Papstwahldekret 1059 bleibt gültig: „Klerus und Volk, bis
dahin gemäß altkirchlichem Brauch Wähler des Papstes, wie
jeden anderen Bischofs, waren ihres Wahlrechts beraubt" (125).

Teil C über „die gregorianische Reform der Kirche bis zum
Tode Papst Gregors VII. 1085" bestätigt die Korrektur des zuerst
geplanten Buchtitels „...zur Papstkirche..." in „...zur
Papstherrschaft Gregors VII." (vgl. 33). Nach einem Wort Hans
von Schuberts wurde wirklich das hildebrandinische Zeitalter
unser europäisches „Schicksal". Das schon ungewöhnlich
..Populistische" gerade bei der Wahl dieses Papstes wird aber
oft vergessen, die Nichtbeachtung des neuen Papstwahldekrets:
„Die Kardinalbischöfe, die doch eigentlich den Papst hätten
wählen sollen, standen vor vollendeten Tatsachen" (143). Das
Epochale des „Dictatus Papae 1075" wird überzeugend von seinem
eigentlichen Sprengsatz her erfaßt: „Er kann Untertanen
vom Treueid gegen unbillige (Herrscher) entbinden (absol-
vere)". Gregors Lebenswort und Wort im Sterben „Gerechtigkeit
" wird mit Luther theologisch sachgemäß kritisiert: „Nu
aber widerstund er nicht alleyn dem Übel und rächte sich
selbst..." (171). Die Schlußseiten nehmen damit die Burckhardt-
sche Frage nach „Größe" in der Weltgeschichte auf und lehren ,
wie diese Epoche auch eine protestantische Kirchengeschichtsschreibung
bleibend provoziert, die in diesem Buch
doch auch konfessionell selbstkritisch bleibt. Über ein Jahrhundert
lang ging es um „Reform" kirchlicher Institutionen. Aber
ging es um die „ecclesia Semper reformanda"? Die Herkunft
dieses Schlagwortes (vermutlich aus dem neuprotestantischen
19. Jh.) müßte einmal nachgewiesen werden. Die Lehre von der
„ecclesia perpetua mansura" nach Confessio Augustana VII
schließt jedenfalls das 10. und 11. Jh. ein (vgl. 32).

Drei kleine Hinweise seien dazu genannt, wie diese gelungene
allgemeinverständliche Kirchengeschichte auch fachwissenschaftlich
anregend ist: 1. Im Herannahen des Jahres 2000. das
die Kirche zu Rom jubelnd begehen möchte, sind die vielfachen
apokalyptischen Endzeiterwartungen um das Jahr 1000
erinnerungswürdig, die Haendler nach J. Fried (DA 45. 1989)
heraushebt. Aber wenn irgend ein Datum, so war es nicht das
Jahr 1000, sondern 1033 als tausendjährige Wiederkehr der

Kreuzigung Jesu, die z.B. von Rudolf Glaber als beunruhigend
empfunden wurde (35; vgl. auch Staats, Theologie der Reichskrone
34f.). - 2. Die hier nach neuestem Forschungsstand (Hla-
witschka u. Armin Wolf) referierte These, daß Heinrich II.
noch nicht durch freie Wahl, sondern durch Erbrecht unter die
Krone kam (82), verdient eine generelle Prüfung. Es bleibt
doch erstaunlich, daß dem Christentum seit Clemens I. eine
.demokratische' Wahl wichtig blieb. Hat die freie benediktini-
sche Abtswahl, hier klar für Cluny nachgewiesen (60), nicht
auch eine rechtsrechtliche Vorbildfunktion gehabt? - 3. Das,
da den Rahmen sprengend, vielleicht etwas zu kurz gekommene
Ost-West-Schisma von 1054 hätte den Sprachenstreit in der
Missionsgeschichte, hier anschaulich in der Darstellung des
Slawisch-Lehrers Boso von Regensburg (74), erklären können
(vgl. schon Haga, a. a.O. 148): Das fränkische Diktat der drei
klassischen antiken Sprachen der Kreuzesinschrift (Jo 19,20)
gegen die jeweilige Volkssprache in der Liturgie muß doch
wohl im Abendland bis ins Spätmittelalter von orbitanter Wirkung
gewesen sein.

Kiel Reinhurt Staats

Löwe, Heinz: Religiosität und Bildung im frühen Mittelalter
. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. und mit einer Einleitung
versehen von T. Struve. Weimar: Böhlau 1994. XV, 384 S„
1 Porträt, gr.80. Lw. DM 94,-. ISBN 3-7400-0920-9.

Der 1978 emeritierte und 1991 verstorbene Tübinger Historiker
Heinz Löwe hat sein Leben lang Themen des früheren Mittelalters
bearbeitet und dabei immer wieder Ergebnisse vorgelegt,
die auch für die Kirchengeschichte wesentlich waren. Am wichtigsten
waren die Hefte für die Neubearbeitung des Standardwerkes
von Wilhelm Wattenbach „Deutschlands Geschichtsquellen
im Mittelalter", für die L. (in der Nachfolge von
Wilhelm Levison) den ersten Teil „Vorzeit und Karolinger"
übernommen hatte; 1953 erschien dazu sein erster Beitrag (Heft
II), 1990 sein letzter Beitrag (Heft VI); dem Böhlati-Verlag in
Weimar hat er in all diesen Jahren die Treue gehalten. 1973 war
ein Band mit Aufsätzen von L. erschienen „Von Casiodor zu
Dante". 1982 gab L. eine zweibändige Sammlung von Vorträgen
heraus, die in Tübingen auf einer von ihm geleiteten Tagung
gehalten worden waren: „Die Iren und Europa im frühen
Mittelalter". Am Ende des jetzt vorgelegten Bandes findet sich
eine Bibliographie mit 65 Titeln: Bücher und Aufsätze ohne
Rezensionen und lexikalische Artikel (370-375).

Den vorliegenden Aufsatzband hat L.s Schüler T. Struve
gestaltet. L. hatte einen solchen Plan gehabt, doch hat er keine
genaueren Angaben hinterlassen. Die Einleitung beginnt mit
der Feststellung: „Im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes
steht die Thematik der Christianisierung der frühmittelalterlichen
Welt und ihrer Auseinandersetzung mit den zumeist aus
der Antike überkommenden Bildungsinhalten. Dies aber war
ein schwieriger und zumeist langwieriger Prozeß; war es doch
keineswegs mit Taufe und Unterweisung in den grundlegenden
Glaubenstatsachen getan. Vielmehr bedurfte es fortgesetzter,
intensiver Bemühungen, um von einer äußerlichen, lediglich
formalen Aneigung des neuen Glaubens zu einer wahrhaft
christlichen Lebenshaltung zu gelangen" (IX). Die Aufsatztitel
zeigen, daß L. häufig eine Darstellung anstrebte, die einzelne
Persönlichkeiten in den Mittelpunkt stellte. Auf diese Art zeigen
die vorgelegten Aufsätze „in Ausschnitten ein Bild von
Religiosität und Bildung im frühen Mittelalter... freilich auf
exemplarische Weise. Sie vermögen somit, uns jene scheinbar
so fernstehende Epoche und einige ihrer geistigen Exponenten
näher zu bringen, in welcher doch in vielfacher Hinsicht die
Wurzeln unserer europäischen Kultur liegen" (XV).