Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1995

Spalte:

529-530

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Vögtle, Anton

Titel/Untertitel:

Die "Gretchenfrage" des Menschensohnproblems 1995

Rezensent:

Schmeller, Thomas

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

529

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 6

530

antiken Rhetorik vorgetragen worden. Hierin liegt das Verdienst
der Arbeit. Das zugrundeliegende Paulusbild bedarf freilich
dringend weiterer Untersuchungen, da es zumindest in der
Gefahr ist. nicht nur die Theologie des Apostels, sondern auch
seine Person in einander widersprechende Teile aufzulösen,
was weder dem Apostel noch der Bibel insgesamt gut bekommen
wird. Wenn eine Theologie, die zunächst einmal von der
Einheitlichkeit der Aussagen des Apostels z.B. über die Juden
ausgeht, von vornherein als harmonistisch verdächtig ist. so
wird man der neuen Art. Paulus zu betrachten, einen ähnlichen
Vorwurf nicht ersparen können, nämlich den des Atomismus -
beide Arten haben ihre spezifischen Vor- und Nachteile und
sind einander keineswegs grundsätzlich und von vornherein
Uberlegen, allerdings würde ich bei einem Schriftsteller wie
Paulus doch dafür plädieren, zunächst einmal von einer gewissen
Einheitlichkeit der Gedankenwelt auszugehen. Und ist diese
, gerade auf dem Hintergrund der von der Vfh. erarbeiteten
Hyperbole in IThess 2, nicht auch möglich? Vor allem wenn
man das an dieser Stelle zugrundeliegende atl.-jüdische Theolo-
goumenon vom prophetenmordenden Israel als Topos der Um-
kehrpredigl würdigt? Ein Paulusverständnis jedenfalls, das sich
den Apostel nur noch als auf einer Von-Tag-Zu-Tag-Basis denkend
und argumentierend vorzustellen vermag, scheint mir dem
theologischen und schriftstellerischen Niveau des Apostels
nicht gerecht zu werden und läßt die Frage entstehen, ob sich
die Exegese solcher Texte überhaupt noch lohnt.

Siegen Ingo Broer

Vögtle. Anton: Die „Gretchenfrage" des Menschensohnpro-
blems. Bilanz und Perspektive. Freiburg-Basel-Wien: Herder
1994. 182 S. 8« = Quaestiones Disputatae, 152. Kart. DM
24,80. ISBN 3-451-02152-8.

Was soll man als relativ junger Exegeseprofessor zu einem
Buch schreiben, das eine solche Entstehungsgeschichte hat? Ein
1910 geborener Altmeister der deutschen Bibelwissenschaft hat
sich hier erneut zu einem Thema geäußert, das ihn bereits als
Divisionspfarrer im Zweiten Weltkrieg beschäftigte und über
das er sich Ende der 40er Jahre habilitierte. Auch 1977, als ich
in meinem vierten Semester in Freiburg bei ihm hörte, war der
Menschensohn (=MS) sein Thema. Damals war mir das Thema
zu schwierig - die Mitschrift, die ich für diese Rezension suchte
und fand, bricht nach wenigen Stunden ab. Heute bin ich dankbar
, eine zweite Chance zu bekommen. In einer ähnlichen Lage
sind zweifellos viele andere, die sich über diese zusammenfassende
Darstellung und Erweiterung dessen freuen, was sie aus
mündlichen und schriftlichen Einzelbeiträgen des Vfs. als sein
Thema kannten.

Der Titel des Buches bezieht sich auf Lk 12.81'par, eine Stelle
, der V. in der Einführung (9-13) die Schlüsselrolle in der MS-
Problematik /uweist. In der Tat zeigt die Besprechung der einzelnen
in neuerer Zeit zum MS vertretenen Thesen, die den
größten Teil des Buches ausmacht, daß sich am Umgang mit
dieser Stelle die Tragfähigkeit eines Ansatzes erweisen muß.

Ein auch nur andeutender Abriß der Thesenvielfalt, die V.
detailliert vorstellt und kritisiert, ist hier natürlich nicht möglich
. Jeder, der sich mit dem MS beschäftigt hat, kennt die verwirrende
Vielfalt der Entwürfe. V. hat sie in eine klare Abfolge
gebracht: Teil A (14-21) ist, wohl als Einstieg, einer der neuesten
Thesen (von P. Hoffmann. 1991) gewidmet, die den MS in
Lk 12,8f par für nachösterlich hält und eine reine Ich-Fassung
auf Jesus zurückführt: die zweite Hälfte dieser These lehnt V.
ab. Teil B (22-81) ist mit „Der Ich/der Mensehensohn-Spruch
im Rahmen von Authentizitätshypothesen" überschrieben: Die
hier besprochenen Autoren führen in vielen Variationen die

Redeweise vom MS auf Jesus zurück (als objektive Ankündigung
eines anderen, als Selbstbezeichnung, als idiomatischen
Sprachgebrauch |„ein Mensch, ein Mensch wie ich"] usw.). In
Teil C (82-144) werden die verschiedenen Theorien zur nachösterlichen
Entstehung der MS-Bez.eichnung vorgestellt, die
schließlich zum letzten Teil (D, 145-175) überleiten, wo V. seinen
eigenen Ansatz entwickelt.

Dieser ist folgendermaßen zu umreißen: Die MS-Bezeich-
nung setzt die im nachösterlichen „Maranatha" greifbare Erwartung
Jesu als Retter und Richter voraus; sie knüpft nicht an Dan
7,13, sondern an die Bilderreden lHen an, die ein solches endzeitliches
Heils- und Gerichtshandeln mit dem MS verbinden:
ein urchristlicher Lehrer oder Prophet übertrug sie auf den Paru-
sie-Christus; die MS-Bezeichnung haftet also ursprünglich an
Parusieworten (V. diskutiert neben Lk I2,8f ausführlich auch
Lk I l,29f); von hier wurde sie in die Gegenwartsaussagen und
in die Worte vom leidenden MS übernommen, um angesichts
des Gegensatzes zwischen dem niedrigen Leben und Ende Jesu
einerseits und der großartigen Parusieerwartung andererseits
„die personale Identität des vorösterlichen Jesus mit dem Paru-
sie-Christus nachdrücklich hervorzuheben" (164)

Wie V. selbst berichtet, lobte sein Lehrer Wikenhauser vor
bald 50 Jahren an der Habilitationsschrift des Schülers die
gründliche und scharfsinnige Arbeitsweise, sagte ihm aber
auch: „Sie haben mich keineswegs überzeugt." (8). In beidem
schließe ich mich (in aller Bescheidenheit) Wikenhauser an.
Mir scheint gerade Lk I2,8f und damit die von V. hervorgehobene
Schlüsselstelle gegen seine Sicht zu sprechen. Ist dieses
Nebeneinander von Ich und MS einem urchristlichen Lehrer
oder Propheten zuzutrauen? Sollte man nicht gerade hier, wo
eine Beziehung zwischen dem vorösterlichen Jesus und dem
Parusie-Christus hergestellt wird, die von V. erst für eine spätere
Entwicklungsstufe angenommene explizite Identifizierung
erwarten? Und konnten die Hörer wirklich aus Lk 12,81'entnehmen
, dal! es nicht um zwei Personen, sondern um zwei Status
derselben Person ging? Meinen eigenen (bisherigen) Standpunkt
finde ich bei V. unter „B VIII" eingeordnet: „Die Hypothese
, Jesus habe die Identifizierung des von ihm angekündigten
qualifizierten Gerichtszeugen offen gelassen" (75). Die
Argumente V.s gegen diese Auffassung (z.B. das Problem, wie
ein von Jesus möglicherweise verschiedener Gerichtszeuge mit
dem Sendungsanspruch Jesus vereinbar ist), sind allerdings so
beachtlich, daß ich mir meiner Sache nicht mehr so sicher bin.

Eine solche Wirkung wird das Buch wohl bei vielen Lesern
haben. Es macht die Komplexität des Themas eindrücklich
bewußt. Die engagierte, aber immer souveräne und sachliche An
der Argumentation wird sicher das von V. erhoffte Ziel erreichen
: „die Diskussion um die Herkunft der Redeweise vom MS
in aller Fairneß weiterzuführen, um nicht zu sagen: mit größerer
Gelassenheit, als es mir selber noch gelungen ist" (179).

Dresden Thomas Schmeller

Kirchengeschichte: Mittelalter

Acklin Zimmermann, Beatrice [Hrsg.]: Denkmodelle von
Frauen im Mittelalter. Freiburg/Schweiz: Universilatsv er
lag 1994. 208 S. 8« = Dokimion, 15. Kart. sFr 36.-. ISBN 3-
7278-0942-6.

Nicht das Denken über Frauen im androzentrischen Mittelalter,
sondern das von sieben theologisch bedeutenden Frauen des 12.
bis 14. Jh.s wird in den durchweg gediegenen Beiträgen altausge-