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Ausgabe:

1995

Spalte:

527-529

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schlueter, Carol J.

Titel/Untertitel:

Filling up the measure 1995

Rezensent:

Broer, Ingo

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 6

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tum bestimmt; und dieses Bild von Israel, das sich dem Messias
Jesus gegenüber so verhalte, wie es dies zur Zeit der Väter
gegenüber den Propheten getan habe, hat im frühen Christentum
eine sehr breite Rezeption gefunden, nicht nur im lukani-
schen Doppelwerk, sondern auch im Markus- und Matthäusevangelium
- und nicht zuletzt auch im Denken des Paulus:
IThess 2,15f erscheint so keineswegs als vereinzelte Reaktion
auf widrige Erfahrungen, sondern als die Sicht, von der Paulus
lange Zeil hindurch bestimmt war. Um so erstaunlicher erscheint
dann die Lösung des Israel-Problems, wie er sie im
Römerbrief gefunden hat!

Weißenhaus Ulrich Wilckens

Schlueter, Carol J.: Filling up the Measure. Polemical Hyper-
bole in IThessalonians 2:14-16. Sheffield: JSOT Press 1994.
219 S. 8° = Journal for the Study of the New Testament, Sup-
pl. Series 98. Lw. £ 37.50. ISBN 1-85075-479-9.

Die Arbeit, die einen "fresh approach" auf den in der Regel für
antijüdisch gehaltenen Text in IThess 2,14-16 mit Hilfe der
rhetorischen Analyse unternehmen will und als Ph-D Dissertation
vermutlich der Wilfried Laurier Universität in Waterloo,
Ontario, Kanada, vorgelegen hat, beginnt mit einer Forschungsgeschichte
des 19. und frühen 20. Jh.s sowie der ausgewählter
Positionen aus der in den 60er Jahren neu aufgeflammten Diskussion
. Dabei werden die von den einzelnen Autoren gegen
die Authentizität vorgetragenen Argumente mit den Einwänden
anderer Autoren gegen diese Argumente konfrontiert, und die
Vfn. kommt zu dem Ergebnis, daß die bislang aufgrund von
strukturalen, linguistischen und syntaktischen Analysen vorgetragenen
Einwände gegen die Authentizität durch die Arbeiten
von Hurd und Donfried als nicht Uberzeugend erwiesen worden
sind. Kap. 3 behandelt dann den einzigen nach Ansicht der Vfh.
bislang noch nicht überzeugend widerlegten Einwand gegen die
Authentizität dieses Abschnittes, nämlich die Frage nach der
Historizität der Verfolgung der christlichen Gemeinden in
Judäa von Seiten der Juden in den ersten Jahrzehnten nach der
Auferstehung Jesu. Hier steht die Apg gegen die Eigen-Zeug-
nisse des Apostels Paulus, die die Verfolgungen der Christen in
diesen ersten Jahrzehnten nicht unbedingt bestätigen, woraus
sich für die Vfn. ergibt, daß die Berichte der Apg in dieser Hinsicht
übertrieben sind. Eine Durchsicht der Analysen Hengeis
und Sanders' ergibt, daß es jedenfalls in den ersten Jahrzehnten
der Urgemeinde eine große Verfolgung nicht gegeben hat, allerdings
gab es in Jerusalem zu dieser Zeit auch keine unbeschnittenen
Heidenchristen. Das Erstere gilt aber nicht nur für Jerusalem
, sondern auch für Thessalonich: Auch dort gab es, dem
Zeugnis von IThess 2 zum Trotz, keine ernsthafte Verfolgung
der Anhänger der Jesusbewegung. Die Frage, welche Intention
des Apostels dann hinter der Verfolgungs-Aussage von IThess
2,15 steht, beantwortet die Vfn. S. 53: "it is a polemic which
required exaggeration in order to support and brace his church".
Dies nachzuweisen ist das Ziel der Untersuchung, dem die Vfn.
sich aber erst widmen kann, wenn sie gezeigt hat, daß man die
Perikope nur recht versteht, wenn man sie isoliert in ihrem eigenen
Recht betrachtet und sie nicht sofort auf dem Hinter- oder
Vordergrund von Rö 9-11 in den Blick nimmt. Deswegen werden
in Kap. 4 die diese beiden Texte harmonisierenden Interpretationen
von Munck und Donfried einer kritischen Nachprüfung
unterzogen, der diese (natürlich) nicht standhalten - die
beiden Paulus-Texte sind nach Ansicht der Vfn. nun einmal
Gegensätze: "Thus, instead of claiming that Paul 'augmented"
what he had said in IThess 2,14-16, I contend that he 'revised'
it." (60) Nicht eine kohärente Theologie des Paulus darf der
Ausgangspunkt der Interpretation sein, sondern ein "coherent

core", den Paulus je nach Situation und Kontext ganz unterschiedlich
zum Ausdruck bringt.

Auf dem Anmarsch zu ihrem neuen Zugang geht die Vfn. der
häufig geäußerten Vermutung nach. Paulus übertreibe in
I Thess 2,14-16, um die Gemeinde von Thessalonich zu festigen
, und findet diese Annahme voll bestätigt. Gründe dafür sind
u.a. die Kenntnis des Paulus um die fehlende Kapitalgerichtsbarkeit
der Juden zur Zeit Jesu, die als polemisch bekannte all -
jüdische Redeweise von den Prophetenmorden und die Tatsache
, daß richtige Verfolgungen der Christen in den ersten Jahrzehnten
nicht stattgefunden haben. Diese Erkenntnis bestimmt
den weiteren Verlauf der Untersuchung entscheidend, wird sie
doch zum Anlaß, in den folgenden Kapiteln den Bräuchen der
rhetorischen Übertreibung in der antiken Literatur und in den
Paulusbriefen vertieft nachzugehen.

Die Entscheidung, welchem Typ von Rede/Schreibe der
IThess zuzuordnen ist, ist nicht Ziel der Untersuchung, sondern
ein besseres Verständnis der übertreibenden Ausführungen in
IThess 2. Dazu werden die Mittel der antiken Rhetorik zur
Beeinflussung der Zuhörer vorgeführt, wobei der Schwerpunkt
bei der "amplification" (gr.: auxesis) und der Hyperbole liegt,
so schwierig deren gegenseitige Abgrenzung auch ist. Zahlreiche
Aussagen im zur Diskussion stehenden Abschnitt dürften
von solcher Hyperbole beeinflußt sein, die im übrigen zwar
polemisch sein kann, aber von der Verleumdung und der
Schmährede deutlich zu unterscheiden ist. Die paulinische
Hyperbole trägt durchaus gemeinsame Züge mit der der Kyni-
ker, der eschatologische Bezug freilich findet sich dort nicht,
wohl aber z.B. in den Schriften vom Toten Meer. Die Rhetorik
des Paulus in IThess ist effektiv, würde aber von den antiken
Rhetorikern kaum als perfekt bezeichnet werden. Ziel der Paulinischen
Hyperbole in IThess ist die Stabilisierung der Identität
der Gemeinde in Thessalonich. solche Hyperbole ist im übrigen
keineswegs auf IThess 2 beschränkt, sondern findet sich häufiger
in den Paulus-Briefen, z.B. auch in Rö I und 2. Besonders
in kritischen Situationen wendet Paulus sich mit Hilfe der
Hyperbole gegen Juden, Christen und Heiden und verwendet
dazu bipolare Konstruktionen ohne Mittelglied, v.a. den Gegensatz
zwischen l. und 2. Person Plural, um so Solidarität auf der
einen und Distanz auf der anderen Seite zu schaffen und auf
diese Weise den Konflikt durch Polarisierung zu klären und zur
Entscheidung zu treiben, natürlich nach Möglichkeit zu seinen
Gunsten. Auffälligerweise ist die Polemik gegen seine christlichen
Opponenten schärfer als die gegen die Juden, wobei letztere
im Corpus Paulinum von IThess zu Rö eine abnehmende
Tendenz zeigt. Da die Polemik gegen die Mitchristen nicht
antichristlich ist, ist die gegen die Juden auch nicht antijüdisch.
Der Abschnitt in IThess 2 hat seine Ursache in der Konfrontation
von Juden und Christen und ist nicht einfach eine Konsequenz
der gegenseitigen Missionskonkurrenz. Zum Schluß,
nach der intensiven Analyse im Blick allein auf IThess 2 und
seinen Kontext (was Vergleiche nicht ausschloß) wendet sich
die Vfn. wieder dem Vergleich mit Rö 9-11 zu und findet die
Stellungnahmen des Paulus zur Israelfrage ähnlich divergierend
wie seine Stellungnahmen zum Gesetzeskomplex. Paulus dachte
über die Rolle des Gesetzes und über die Israels in Gottes
Heilsplan "on a day-to-day, crisis-by-crisis basis". "It appears
that when Paul found himself in a polemical Situation, he often
resorted to hyperbolic Statements which he softened or revoked
at other times."

Den Einwand. Paulus könne doch kaum eine ausgefeilte rhetorische
Bildung besessen haben, kann man gegen die Vfn.
übrigens nicht erheben, da sie davon ausgeht, "that general pat-
terns of rhetoric would have been known by many people at the
time simply by being part of the same milieu."

Die These der Vfn. ist, wie sie selbst weiß, nicht neu, aber
bislang noch nicht so elaboriert und unter Einbeziehung der