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Ausgabe:

1995

Spalte:

523-527

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Sänger, Dieter

Titel/Untertitel:

Die Verkündigung des Gekreuzigten und Israel 1995

Rezensent:

Wilckens, Ulrich

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 6

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Sänger, Dieter: Die Verkündigung des Gekreuzigten und
Israel. Studien zum Verhältnis von Kirche und Israel bei
Paulus und im frühen Christentum. Tübingen: Mohr 1994.
XI, 395 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum
Neuen Testament, 75. Lw. DM 228,-. ISBN 3-16-146220-3.

Dieses Buch, die überarbeitete und gekürzte Fassung der Kieler
Habilitationsschrift des Vf.s, setzt sich zum Ziel, einen exegetischen
Beitrag zum christlich-jüdischen Dialog zu geben, durch
den verfestigte Schein-Alternativen gelöst und ein konsenslähi-
ges exegetisch-theologisches Fundament für den weiteren Dialog
gelegt werden soll.

Nach Einleitung (Kap. 1), „Vorklärungen" (Kap. 2). und
einer Einführung in den gegenwärtigen Stand des Dialogs auf
kirchlicher und neutestamentlicher Ebene (Kap. 3), wird im
4. Kap. die entscheidende These ausgearbeitet: „Die Behauptung
, bereits das Neue Testament enthalte einen in ihm ausgebildeten
, theologisch essentiellen Antijudaismus. ist verfehlt"
(78). Der Vf. gebraucht diesen Begriff „zur Kennzeichnung der
dem Christentum entstammenden, theologisch motivierten
Feindschaft gegenüber Juden und dem Judentum" (40 Anm.
23). In diesem Sinne fällt es dem Vf. leicht, Zustimmung zu seiner
These zu finden. „Daß das Neue Testament nicht nur israel-
bzw. judenkritische Passagen enthält, sondern seinem Wesen
nach judenfeindlich strukturiert ist" (75). behauptet m.W. kein
gegenwärtig lebender Fachkollege. Zwar nötigt uns die Shoah
zu einer radikal-kritischen Rückschau auf judenfeindliche Motive
, ja Strömungen innerhalb der Geschichte des Christentums,
die sich biblisch legitimiert wähnten: und „die neutestamentli-
che Exegese kann sich nicht davon dispensieren lassen, die
Ursachen des auch mit Hilfe paulinischer Texte entwickelten
kirchlichen Antijudaismus als eine der eigenen Glaubensurkunden
zutiefst widersprechende Schuld aufzudecken und zu benennen
" (11). Andererseits darf das nicht dazu führen, „einer
Option das Wort zu reden, die den konfessorischen Charakter
des eigenen Glaubens aus Einsicht in die Verstrickungen der
Vergangenheit preisgibt" (12).

Eben darum kommt es entscheidend darauf an, daß die neute-
stamentliche Wissenschaft mit Hilfe ihrer historisch-kritischen
Kunst nicht nur zu zeigen vermag, daß .Antijudaismus' in diesem
Sinn im Neuen Tetament nicht zu finden ist, sondern vor
allem herausarbeitet, worin denn die durchaus vielfach und
v iel fähige Kritik an Theologie und Frömmigkeit des damaligen
Judentums eigentlich begründet ist. Nachdem der Vf. dies im
Zusammenhang des 4. Kapitels im Blick auf tora- und halacha-
kritische Stoffe der synoptischen Tradition (42-54) und auf die
Zielrichtung frühchristlicher Schriftauslegung und Schriftbewertung
(z.B. „altes" und „neues Testament" in 2Kor 3: 63-72)
exemplarisch getan hat, geht er im Hauptteil des Buches der
Verhältnisbestimmung zwischen Kirche und Israel theologisch
auf den Grund. Dabei beschränkt er sich auf Paulus und konzentriert
sich auch hier noch einmal auf Partien des Galater-
und Römerbriefes.

Das 5. Kapitel behandelt Rom 1-4. 9-11. Der Vf. will zeigen,
wie hier die Themen „Sünde aller Menschen. Juden wie Heiden
, und Rechtfertigung aller Glaubenden ohne Gesetzeswerke,
Juden wie Heiden", und „Vorrang Israels als des erwählten
Gottesvolkes" so ineinander verschränkt sind, daß weder der
Vorrang der Erwählung zu einem heilsgeschichtlichen Vorrang
eines gesonderten Heilsweges Israels neben dem der Kirche in
Christus wird (R. Ruether und andern), noch auch umgekehrt
der christliche Heilsweg den Israels völlig in sich aufhebt, so
daß das Volk Israel „paganisiert" erscheint (G. Klein) und Rom
9-11 als theologisch problematischer Abweg zu beurteilen wäre
(R. Bultmann). Der Vf. zeigt an Rom 1,16f, wie in dieser Themaangabe
des Briefes beide Aspekte programmatisch „verschränkt
" sind: der Gleichheit von Juden und Christen unter

dem Aspekt der Rechtfertigung und zugleich der bleibende Vorrang
der Juden als Gewählte(95-101). Er zeigt sodann an Röm4,
wie hier Abraham als „Verheißungsträger" zugleich als der
Vater aller Glaubenden, Juden wie Heiden, christlich in Anspruch
genommen wird (106-118), Verheißung und Rechtfertigung
also auf das engste soteriologisch verschränkt sind (123-
144). ohne daß dadurch das Prae der Verheißung, der Vorrang
Israels als der Gewählten Gottes (zu Rom 3,1-8: 135f) aufgehoben
würde. Als der entscheidende Sinn dieser Verschränkung
tritt so hervor: „Gottes Treue als Fundament der Heilshoffnung
für Juden und Heiden" (144-151). Es ist der eine und selbe
Gott, der Israel erwählt hat, und dessen Gnade als die davon
wirksame Kraft zugleich in der Rechtfertigung aller Glaubenden
in Christus zur Wirkung gekommen ist (113): „die Erwäh-
lung Israels ist immer schon identisch mit der Rechtfertigung
des Gottlosen, die von Beginn an die efrvi] inkludiert" (149).

Daraus erhellt, daß Rom 9-11 in Rom 4 nicht nur hier und da
präludiert, sondern fest begründet ist. Der 2. Teil des 5. Kapitels
, der Rom 9-11 behandelt, kann sich daraufhin auf 11,11-32
konzentrieren. Der Vf. sieht den Argumentationsgang von Rom
9-11 zweigeteilt: 9,6-11,10 bereitet vor. was dann in 1 1,1 1-32
als dem Ziel- und Höhepunkt dargelegt wird. „Es ist unmöglich,
daß Gottes Wort hinfällig geworden wäre" (9.6a). dieser Satz
erweist sich also als die Leitthese: In der Verheißung an die
Erzväter ist das gleiche Wort Gottes wirksam wie im Christusevangelium
. Diese Identität erweist sich in der paradoxen heilsgeschichtlichen
Bestimmung Israels und der Heidenvölker füreinander
: Die gegenwärtige „Verstockung" Israels dient der
Rettung des nXrQ(s)[ia ei)vü)v, dessen „Eingang" dann umgekehrt
die schließliche Rettung „ganz Israels" zur Folge haben
wird. Die ,Logik' in dieser wechselseitigen Indienslnahme ist
die, die sowohl in der Erwählung Israels wie in der Rechtfertigung
in Christus wirksam geworden ist: Gott macht den Gottlosen
gerecht (170: zur Parabilität zwischen 11,25-32 und 4,1-8).
Es ist seine unergründbare Barmherzigkeit (11,32), die rettet
und damit zugleich in ihrem Sinne für andere in Dienst nimmt
(1 1,28-30). Dies ist der eigentliche Inhalt des „Geheimnisses",
der so einen spezifisch anderen Charakter hat als die .Mysterien
'. Inhalte in jüdischer Überlieferung sonst (181-191): Die
„Rätselhaftigkeit des göttlichen Heilsplans für nag ToQmjX
und die ef)vr|" (192) besteht darin: „Gutgesonnen dem Augenschein
ist und bleibt Israel das von Gott berufene Volk, denn
seine Verheißung und Treue gilt. Aber ebenso gilt, daß in Christus
derselbe Gott Juden und Heiden zum Heil bestimmt hat.
Beiden enthüllt Paulus ihre Bestimmung füreinander (1 1,25b),
die im tiefsten keine Auszeichnung des einen vor dem anderen
verträgt, schon gar keine Herabsetzung des einen durch den
anderen (193). So gesehen, „ist es nicht einmal falsch, von
einem soteriologischen Sonderweg Isrels zu sprechen" (195).

Worin die eigentliche und entscheidende Differenz zwischen
der Kirche und Israel besteht, ist dann das Thema des 6. Kapitels
. Der Vf. stellt m.R. heraus, daß für damalige Juden nicht
der Messiasanspruch für Jesus der Stein des Anstoßes war - es
gab ja andere Messiasprätendenten, die in ihrer Umgebung
unangefochten waren (201-206). Das Beispiel Bar Kokhba's
zeigt, wie eine ausdrückliche Anerkennung von seiten führender
Lehrer wie Rabbi Aqiva theologisch durchaus möglich war
(206-209). Es war (und ist!) vielmehr die Inanspruchnahme
eines Gekreuzigten, der nach Dtn 21,23 als von Gott Verfluchter
zu gelten hat, als Messias und das Verständnis der Messia-
nität Jesu als dessen, der stellvertretend für die vielen Sünder
den Fluch, der ihnen den Tod zuspricht, am Kreuz auf sich
gezogen hat und so zum Retter von Sündern geworden ist (Gal
3,13), und den Gott als solchen aus diesem Tode auferweckt
und als seinen Sohn erwiesen (Rom l,3f) und ihm den Kyrios-
Namen verliehen hat (Phil 2,9-11), - es ist diese „genuine inter-
pretatio christiana" (217), die Juden und Christen trennt, sofern