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Ausgabe:

1995

Spalte:

31-32

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Stiegler, Stefan

Titel/Untertitel:

Die nachexilische JHWH-Gemeinde in Jerusalem 1995

Rezensent:

Albertz, Rainer

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 1

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Stiegler, Stefan: Die nachexilische JHWH-Gemeinde in
Jerusalem. Ein Beitrag zu einer alttestamentlichen Ekklesio-
logie. Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien:
Lang 1994. 176 S. 8° = Beiträge zur Erforschung des Alten
und des antiken Judentums, 34. Kart. DM 59,-. ISBN 3-631-
45899-1.

Untersuchungen zur lange vernachlässigten nachexilischen
Epoche dürfen des Interesses gewiß sein, besonders wenn sie
sich einem so wichtigen und kontroversen Gegenstand zuwenden
wie der sozialen und religiösen Struktur Israels in dieser Zeit.
Allerdings ist der Leser überrascht, in dem Buch eine Dissertation
zu entdecken, die der Vf. schon ab 1982 erarbeitet und 1987
an der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg eingereicht
hat, deren Publikation sich aber durch politische und persönliche
Umstände verzögerte. Enttäuschend wird es dann für den Leser,
wenn er erfährt, daß der Vf., als Gemeindepastor mit vielen Aufgaben
belastet, sich entschlossen hat, „die ursprüngliche Dissertationsfassung
weitgehend unverändert zu lassen" (15). Denn
damit bleibt nicht nur die moderne Pentateuch- und Chronikforschung
unberücksichtigt, wie der Vf. eingesteht, sondern auch
fast die gesamte neuere Diskussion zur Sache (vgl. nur die wichtigen
Aufsätze von F. Crüsemann und S. Talmon in: W. Schluchter
, Max Webers Sicht des antiken Christentums, 1985 u.a.). Der
Vf. übernimmt für die Beschreibung des nachexilischen Israel
von R. Mosis unreflektiert den Gemeindebegriff (7), ohne die
scharfen und zumindest teilweise berechtigten Einwände Crüse-
manns dagegen zu kennen. Und obwohl er meine Religionsgeschichte
für einige unwichtigere Detailfragen zitiert, setzt er sich
mit meiner - detaillierten und von der seinigen abweichenden -
Rekonstruktion der Organisationsform des nachexilischen judäi-
schen Gemeinwesens (vgl. dort 472ff.) nicht auseinander. So
wird man leider sagen müssen: Abgesehen von einigen nachgetragenen
Anmerkungen repräsentiert das Buch substantiell die
Forschungslage der beginnenden 80er Jahre, die zu großen Teilen
überholt ist.

Das Buch besteht aus 4 Kapiteln: Kapitel 0 (13-43) behandelt
die Quellenlage, wobei der Vf. den untersuchten Zeitrahmen auf
die Jahre 539 bis ca. 450 und die Quellen auf Esr/Neh, Hag,
Sach, Tritjes, Mal (und einige Psalmen, in denen jir'e jhwh
„Jahwefürchtige" vorkommt), eingrenzt. Unberücksichtigt bleiben
leider die Elephantine-Papyri, die zur Sache Wichtiges hätten
beitragen können. Durchaus bedenkenswert ist der Satz: „Wir
Theologen sollten den biblischen Quellen (wieder) mehr historischen
Wahrheitsgehalt zutrauen" (17). Aufgrund dieser Maxime
postuliert S. eine mündliche Esra-Tradition (29), die der Vf. von
Esr/Neh benutzt habe. Im übrigen sieht er in Esr/Neh ein eigenes
Werk, das vor Chron einzuordnen ist (18; 30); in welche Zeit,
läßt er offen. Eine historische Rekonstruktion - mit Esra vor
Nehemia - rundet das Kapitel ab.

In Kapitel 1 (45-104) „Wer gehört zur nachexilischen JHWH-
Gemeinde?" begründet der Vf. aufgrund von Esr 1,5; 6,21; 10,1;
Neh 8,3 (weitgehend ehr. Sicht!) seine Fragestellung und behandelt
ausführlich die Listen Esr 2 // Neh 7; Esr 8,1-14; 10,18 (!
nicht 20)-43; Neh 3; 10; dazu Jes 56,1-8; Sach 2,5-9 und kursorisch
Mal und einige Psalmen. Seine Ausgangsfrage lautet: „Wie
konstituierte sich die nachexilische JHWH-Gemeinde in Jerusalem
?" (45) Und er antwortet darauf mit der Hypothese:

„daß die nachexilische JHWH-Gemeinde in Jerusalem keine ethnische, auf
Blutsverwandtschaft und Abstammung fußende Größe ist. Auch ist sie nicht
in erster Linie durch ökonomische, politische oder soziologische Strukturen
geprägt, sondern die religiöse Komponente ist die entscheidende. Dahei wird
deutlich, daß es einer persönlichen Entscheidung des einzelnen bedurfte, um
zur nachexilischen JHWH-Gemeinde zu gehören" (52).

Die dieser schroffen Gegenüberstellung prima vista widersprechenden
Geschlechterlisten interpretiert S. als „Gemeindeverzeichnisse
" (68 u.ö.), in die alle, die sich für Jahwe entschieden
oder zu ihm bekehrt hatten, eingetragen wurden. Da der fehlende

Geschlechternachweis in Esr 2,59f. nicht zum Ausschluß führe,
könne Abstammung, so folgert S., nicht Kriterium für die Aufnahme
in die JHWH-Gemeinde sein. Jes 56,1-8 öffne die Gemeinde
für jeden, „der ein Mindestmaß an erfüllbaren Forderungen
lebt" (88). Nach S. vertritt der Text eine genauso „verbindliche
Auffassung" wie Esr/Neh; daß er tendenziell z.B. Esr 9-10
widerspricht, spielt keine Rolle (vgl. 156f.).

Nach diesem exegetischen Teil folgen in Kapitel 2 (105-135)
Wortuntersuchungen zu gölä, qähäl, 'am, jisrä'ei, dazu einen
Exkurs zu 'edä, der einen Seitenblick auf die sonst übergangene
Priesterschrift erlaubt. Hier meint S. eine noch radikalere theologische
Umprägung bzw. Ersetzung ethnisch-politischer Begrifflichkeit
nachweisen zu können, als sie L.Rost dargestellt hat.

Das abschließende 3. Kapitel (136-166) soll „Wesen und
Struktur der nachexilischen JHWH-Gemeinde" aufhellen, allerdings
weniger in ihren historischen Details als in ihren „wesentlichen
ekklesiologischen Grundlinien" (136). S. nennt folgende
Wesensmerkmale: Wichtigkeit der persönlichen Entscheidung
des einzelnen, Aufnahmemöglichkeit von Fremden, Abgrenzung
von schädlichen Fremdeinflüssen (Mischehen) und Ausschlußmöglichkeit
. Möglich geworden sei diese Entwicklung zu
einer „Gemeinde der Gläubigen" durch eine Individualisierung
des Jahweglaubens im Exil (139ff„ z.B. durch Ezechiel, die heute
aber z.B. von A. Schenker bestritten wird).

Hier sucht S. an meine religionssoziologische Unterscheidung anzuknüpfen
: „Der durch die Katastrophe von 587 völlig zerstörte offizielle JHWH-
Kult wurde abgelöst von der persönlichen Frömmigkeit des einzelnen, die
von Anfang an zum Wesen des JHWH-Glaubens gehörte (144)", der nach
Meinung von S. in der vorexilischen Periode „staatlich-nationalistisch" verfälscht
worden war (143). Doch scheinen hier - neben problematischen Wertungen
- mehrere Mißverständnisse vorzuliegen: Ich habe nie behauptet, daß
mit 587 die „offizielle", d.h. auf die Großgruppe bezogene Religion untergeht
(z.B. laufen die dtn./dtr., prophetischen und priesterlichen Theologien weiter)
und seit der Exilszeit durch die persönliche bzw. familiäre Frömmigkeit
ersetz) wird. Meiner Meinung nach nähern sich die beiden Religionsschich
ten nachexilisch nur weiter an (vgl. Religionsgeschichte. 555ff.).

In ihrer Organisationsstruktur besteht die Gemeinde, die
durchgängig nach „Familienverbänden" (bit aböt) gegliedert ist.
nach S. aus einem laizistischen Leitungsgremium - das „Priesterkollegium
" (vgl. CAP 30,18; Neh 10,3-18 u.ö.) kennt er nicht -
und einer Gemeindeversammlung. Letztere stellt für S. das Herzstück
der Gemeinde dar, warum er sie auch als „theokratische
Demokratie" (164) bezeichnen kann.

Daß das judäische Gemeinwesen, das in persischer Zeit entstand
, durchaus auch Züge einer religiös konstituierten Gruppe
aufweist, ist schon häufig erkannt worden und wird auch von mir
überhaupt nicht bestritten (vgl. Religionsgeschichte, 382; 468ff.).
Dennoch scheint mir S. darin zu einseitig zu sein, daß er darum
dessen ethnischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen
Charakter leugnet. S. übersieht auf der einen Seite die persische
Provinzverwaltung, die in die judäische Selbstverwaltung hineinragte
(vgl. Neh 5) und ihr substaatliche Züge verlieh (Territorium
, Militär, lokalautonome Rechtsprechung, beschränktes
Münzrecht), auf der anderen Seite bleibt er eine Erklärung dafür
schuldig, warum, wenn es sich um eine reine Religionsgemeinschaft
handelt, diese Uberhaupt, wie auch er nicht leugnet (159f),
nach Familienverbänden (nicht Einzelfamilien, oder gar Einzelpersonen
) organisiert war. Daß es beim Kampf gegen die
Mischehen nur um die Abwehr des Götzendienstes ging, wie S.
glauben machen will (153f.), und nicht zumindest auch um die
Sicherung der verwandtschaftlich organisierten kulturellen, sozialen
und politischen Identität, ist angesichts der Formulierungen
von Esr 9,1; Neh 13,23-27.28 fraglich. So drängt sich doch
der Verdacht auf, daß es vorschnelle Analogien zu heutigen -
und dazu noch freikirchlichen - Gemeindestrukturen (vgl. die
unkritisch verwendete Begrifflichkeit) waren, die S. den Blick
für einen Teil der historischen Realität verstellten.

Siegen Rainer Alben/