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Ausgabe:

1995

Spalte:

495

Autor/Hrsg.:

Beißer, Friedrich

Titel/Untertitel:

- 510 Defizite und Aufgaben heutiger Eschatologie 1995

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495

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 6

496

Friedrich Beißer

Aufgaben heutiger Eschatologie - Probleme und Lösungsmöglichkeiten

1. Zum Eschatologiebegriff

Die hier bestehende „Sprachverwirrung"' ist vielfach beklagt
worden. Daß dadurch Mißverständnisse entstehen können, ist
noch das geringere Übel. Wenn es nicht gelingt, sich über den
Begriff der Sache zu verständigen, ist auch eine Diskussion
über die Inhalte der Eschatologie zumindest behindert.

Es ist zu überlegen, wie überhaupt diesem Mißstand zu
begegnen ist. Man könnte versuchen, sozusagen empirisch vorzugehen
, indem man die bisher entwickelten Begriffe darlegte,
vergliche, gruppierte etc. Es ist aber ein Irrtum, zu meinen, auf
diese Weise trete quasi von selbst der Eschatologiebegriff hervor
. Ein Beispiel für die Undurchführbarkeit eines solchen
empirischen Verfahrens liefert das erwähnte Buch von Hjelde.

Hjelde stellt eigentlich nur unterschiedliche Einteilungsschemata
dar und er entscheidet sich seinerseits am Ende ganz abrupt
für einen eigenen Eschatologiebegriff, indem er eine Gegenüberstellung
von dem (einen) Eschaton mit einer Vielheit
von Eschata proklamiert. Damit kommt auf der einen Seite fast
allein Paul Tillich zu stehen, auf der anderen die übrigen Autoren
. Sehr erhellend ist diese Unterscheidung wohl nicht.

Um überhaupt den Begriff diskutieren zu können, um überhaupt
die jeweils vorgelegten Auffassungen gruppieren und einordnen
zu können, ist offenbar die Aufstellung eines Eschatolo-
giebegriffs (in einer thetischen Setzung) unumgänglich.

Dies darf natürlich nicht willkürlich geschehen. Es ist nichts
damit erreicht, wenn die einzelnen Autoren die von ihnen bevorzugte
Sicht zu „dem" Eschatologiebegriff hochstilisieren, der
alles andere bemessen soll. Woran aber ist dann dieser Begriff zu
gewinnen?

Daß er zunächst eine thetische Setzung sein muß, wurde
schon gesagt. Ein solcher hypothetisch gesetzter Begriff muß
aber dann ausgewiesen werden, und zwar zunächst an den biblischen
Schriften, dann am kirchlichen Bekenntnis und endlich
an den theologischen Konzeptionen (bis in unsre Zeiten hinein).
Ein solcher Eschatologiebegriff wird seine Brauchbarkeit darin
zeigen müssen, daß er tatsächlich in der Lage ist, die vorhandenen
Auffassungen zu umgreifen bzw. einzuordnen bzw. in ihren
Einseitigkeiten zu beleuchten.

Meines Erachtens wäre es dienlich, heute zunächst ein dreifaches
Verständnis von Eschatologie zu unterscheiden: 1. Eschatologie
als Lehre von heutiger Erfahrung des Letzten, 2. als
Lehre von der Verwirklichung der Vollendung in dieser Welt
und 3. als Lehre von der künftigen Vollendung aller Dinge.
Stichwortartig könnte man demnach unterscheiden eine Eschatologie
des Glaubens, eine chiliastische2 Eschatologie und eine
Eschatologie des Jüngsten Tages.

Welche dieser drei Auffassungen entspricht den Schriften,
welche insbesondere dem Neuen Testament? Welche wird vom
Bekenntnis vertreten? Welche wird in den heutigen Positionen
aufgenommen? Wenn diese Unterscheidung geeignet wäre, die
heute tatsächlich vertretenen Eschatologien zu strukturieren, so
wäre anhand dieser Gegenüberstellung darüber zu verhandeln,

1 S. Hjelde, Das Eschaton und die Eschata, BevTh 102, München 1987. 15.

2 Ich verwende damit den Begriff in einem unspezifischen Sinn. Der
eigentliche Chiliasmus erwartet (nach Offenbarung 20) die Herrschaft Christi
und seiner Heiligen auf Erden, die nach lOOOjühriger Dauer und nach
einem letzten Angriff des Bösen von der Vollendung selbst abgelöst werden
wird. Hier soll "Chiliasmus" solche Konzeptionen bezeichnen, die ein Wirksamwerden
der Letzten Dinge an der Geschichte, an dieser Welt und Wirklichkeit
meinen.

welche Vorzüge bzw. welche Probleme mit diesen drei Typen
jeweils verbunden sind. Von hier aus wäre endlich die Hauptfrage
anzugreifen, welcher Begriff von Eschatologie denn der
sachgerechte, der angemessene sei.

2. Eschatologie im Alten Testament

Die Hauptfragen, die sich hier m.E. stellen, lauten, ob sich im
Alten Testament überhaupt eine Eschatologie findet bzw. wann
und aus welchen Gründen sie entstanden sein könnte.

Über den ersten Punkt wurde eine Debatte geführt. Liegt ihr
aber wirklich eine exegetische Kontroverse zugrunde oder entstand
sie nicht eher aus Definitionsproblemen, also daraus, daß
jeweils unterschiedliche Eschatologiebegriffe zugrunde gelegt
waren?

Daß der Jahwe-Glaube immer schon auf Zukunft ausgerichtet
ist, daß von Gott zukünftige Erfüllung erwartet wird, dürfte
selbstverständlich sein. Die alttestamentlichen Verheißungen,
die mit der Erwählung verbunden sind, wie die Verheißung des
Landes, der reichen Nachkommenschaft, überhaupt der Bundestreue
Gottes, aber auch die gesamte prophetische Verkündigung
weisen auf Gottes Handeln in der Zukunft. Aber kann man
all das schon „Eschatologie" nennen?

Wenn Eschatologie die Erwartung eines alles umfassenden
Endes ist, so kann man sie nur in einzelnen, späten Texten ausgesprochen
finden, insbesondere in einigen Kapiteln des Daniel
-Buches. Dan 8,17-19 spricht von „der Zeit des Endes", von
einem „Ende des Zorns", 9,26 und 11,27 von „dem Ende". So
absolut, wie hier vom Ende gesprochen wird, kann es nur ein
einzigartiges, ein alles umfassendes Geschehen meinen, das die
bisherige Geschichte beendet und das wohl auch eine andersartige
, neue Wirklichkeit herbeibringt. Diese Texte stammen offenkundig
aus der Zeit des Antiochus IV. (vor 163).

Wie aber kam es zur Ausbildung solcher „Eschatologie"? Die
bisherigen Erklärungen sind wenig befriedigend.

Man hat versucht, das Entstehen der Eschatologie abzuleiten
aus anderen Religionen oder Kulturen. Aber eine solche Herleitung
stößt auf zwei Schwierigkeiten. Gerade in jenen nachexili-
schen Zeiten führt Israel einen heftigen Abwehr- und Abgrenzungskampf
gegen alle anderen Religionen. Es ist kaum vorzustellen
, daß man unter solchen Umständen bereit war, in entscheidender
Weise Elemente anderer Religionen zu übernehmen.
Außerdem liegt gerade im Zeit- und Geschichtsverständnis eine
Eigentümlichkeit Israels, weil hier mit einem einschneidend neuen
Handeln Gottes gerechnet werden kann. Man mag Anregungen
aus der Umwelt aufgenommen haben, aber hieraus allein
kann schwerlich die Eschatologie entstanden sein.

Man hat weiter versucht, das Aufkommen der Eschatologie zu
erklären aus den extremen Notlagen, in denen sich Israel damals
befand. Diese Notsituation mag mitgespielt haben. In solcher
Bedrängnis mußte die Bereitschaft wachsen, auf eine eschatolo-
gische Botschaft einzugehen. Aber kann diese Verkündigung
auch schon hierdurch entstanden sein? Die Not schafft nicht
selbst schon eine befreiende Gegenvorstellung. Sie macht nur
willig, auf eine irgendwoher gebotene Auskunft sich einzulassen.

Endlich hat man versucht, die Eschatologie aus dem Jahweglauben
selbst abzuleiten. Dies wird grundsätzlich sicher irgendwie
zutreffen. Die Eschatologie bildet gewiß eine Anwendung
des bisherigen Glaubens. So sehr damit der Rahmen,
innerhalb dessen die Eschatologie sich entfalten konnte, bezeichnet
ist, so wenig ist damit aber erklärt, weshalb gerade
jetzt solches Denken ausgeprägt werden konnte.