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Ausgabe:

1995

Spalte:

482-483

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Drechsel, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Pastoralpsychologische Bibelarbeit 1995

Rezensent:

Rebell, Walter

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481

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 5

482

Der Part zeichnet sich durch eine sehr präzise Darstellung und
Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse aus. Zu vermissen
freilich bleibt eine an den neueren Theorien der Evolutionsbiologie
(Autopoiesis etc.) ansetzende Kritik am .Egoismusparadig-
ma' der Soziobiologie. Das Resultat des Prinzips der Reziprozität
(Uberschrift 106: ..Reziproke Verhaltensinterdependenzen".
abweichend vom Inhaltsverzeichnis) bleibt hier insofern rein
.egoistisch' als tit-for-tat-Strategie rekonstruiert.

Teil 3 (119-I69i schalte) völlig richtig und mit der nötigen
Vorsicht (119f.) zwischen den .biologischen' Teil 2 und den
eigentlich ethisch-normativen Teil 4 die Erkenntnisse der Sozialpsychologie
zum spezifisch menschlichen Sozialverhalten
(..Das unterscheidend Menschliche" (134)): Dieses entfaltet
sich durch Geist- und Identitätsbildung in gesellschaftlicher
Interdependenz. Damit treten die reflexiven Elemente „Kommunikation
" (134-139). ..role taking" (140-145) und „verallgemeinerter
Anderer" (145-154) ins Spiel, die der tit-for-tat-Strategie
im menschlichen Bereich andere Grundbedingungen
setzen. Menschliches Handeln ist aktiv-konstruktiv, es ist steuerbar
und unterliegt damit bewußter Normierung (144f.). Orientierungsgröße
in diesem Teil 3 ist v.a. G. H. Mead (vgl. 121-
124; vgl. zum ganzen Teil schon den für die Grundkonzeption
dieses Abschnitts maßgeblichen Aufsatz Hunolds zur Identitätstheorie
im Handbuch der Christlichen Ethik, hier lediglich
zitiert 199 Anm. 77, im Literaturverzeichnis vergessen).

Gerade unter den Bedingungen der naturalen Normiertheit
und Normierungsbedürftigkeit des menschlichen Handelns
bleibt dieses an das auch im Tierreich geltende Strukturgesetz
der Kosten-Nutzen-Relation rückgebunden. Dabei kann die biologisch
vorgegebene tit-for-tat-Strategie kulturell ausgestaltet
werden bis hin zur Goldenen Regel in ihrer negativen oder gar
positiven Fassung (198-216). Es geht in der Sittlichkeit nicht
um ein Außerkraftsetzen der natural angelegten Dispositionen
menschlichen Verhaltens, sondern um deren Gestaltung in der
bewußten Wahl von Zielen wie Mitteln und in der Grundhaltung
des Ethos. Ethoi (dazu zählen auch Normen, Institutionen,
Systeme) sind immer schon Produkt von Kosten-Nutzen-Erwägungen
, liegen konkreten Entscheidungen umgekehrt aber wieder
voraus. Diese Zusammenhänge fängt der Vf. in Teil 4(171-
216) dadurch ein. daß er den Prozeß des konkreten Abwägens
im Sinne konkreter Normbildung als Ausgleich zwischen Eigen-
und Gemeinschaftsinteressen faßt (179-181). Hierzu zwei kleine
kritische Anmerkungen:

1. Was der Vf. im dc/idierten Gegensatz ZU KortTs .sozialer Perichorese'
(189ff. gut beschrieben, aber falsch eingeordnet) als zentrales Ergebnis seiner
Studie vorschlagt, die ..Balance zwischen Eigen- und Gemeinschaltsin-
teresse" (191ff.>. ist unscharf: Braucht man moderne Biologie und Sozialpsy-
chologie. um auf diese Formel zu kommen .' Keiner der drei maßgeblichen
Begriffe ist geklärt - Balance: Interessant wäre es zu wissen, wie das Zuordnungsverhältnis
von Eigen- und Gemeinschaftsinteresse genau ist (von einem
Gleichgewicht zwischen beiden zu sprechen ist völlig unverbindlich: das tun
beispielsweise auch die frühen Sozialdarwinisten): Gemeinschaftsinteresse:
Die entscheidende Frage hier wäre: Wer ist befugt, im Namen der Gemeinschalt
etwas zu fordern (das Problem, daß sieh jeder im Namen der Gemeinschaft
auftretende Staat noch einmal vor dem Individuum rechtfertigen muß.
und damit der politisch-strukturelle Fragehorizont, ist völlig ausgeblendet)?
Schließlich: Um die ethische Qualifikation des Eigeninteresses zu beurteilen,
ist der Begriff des ..Selbst' entscheidend. Hier hätte die Analyse von Hunold
weiterführen können, der gerade über Mead zu einer psychologischen Entfaltung
der sozialen Perichorese kommt. Der Vf. fällt hinter die Perichorese
zurück, indem er bei der Dualität von Individuum und Gesellschaft stehenbleibt
und das .sachhaft-gebrauchende Element' nicht systematisch entfaltet.
Damit geht auch die entscheidende Pointe der sozialen Perichorese. die gegen
eine Verkürzung des Sozialen auf idealisierte .Eigentlichkeit' und .Ich-Du-
Beziehung' zielt, verloren.

2. Der Vf. thematisiert nicht die ökologische Dimension, die als eigene
dritte Anspruchsebene in die Kosten-Nutzen-Rechnung einfließen muß (vgl.
schon Korff. Kernenergie und Moraltheologie 1979). Auch das Exerzier-Bei-
spiel „Umweltschutz" (I95f.) ändert an diesem Defizit nichts, sondern zeigt
vielmehr, wie wenig die Formel von der Balance zwischen Eigen- und
Gemeinschaftsinteresse für eine konkrete Entscheidungsethik austrägt und
wie beliebig der Begriff der Gemeinschaft hier gehandhabt wird.

Teil 5 (217-223: „Schlußreflexionen") rundet die Untersuchung
ab. Alles in allem ist das Buch ein überaus informativer
und faszinierender Versuch, didaktisch glänzend aufgebaut
(Aus- und Rückblicke; Zusammenfassungen; Bilanzen), nie
langweilig, immer wieder aufgelockert durch anregende Beispiele
etwa aus den Bereichen Film, Musik und Theater (14f.;
164; 196ff.), Mythos (30) und Natur (stehlende Krähen 113f.;
schreiendes Erdhörnchen 1151'.). Wichtige Fragen (Normdiskussion
; evolutionäre Ethik) sind präzise gestellt, begriffsstark
entfaltet und zuverlässig aufgearbeitet. Man liest das Buch sehr
gerne und durchaus mit hohem Gewinn!

München Wolfram Winger / Markus Vogt

Praktische Theologie: Seelsorge

Drechsel, Wolfgang: Pastoralpsychologische Bibelarbeit. Ein

Verstehens- und Praxismodell gegenwärtiger Bibel-Erfahrung
. Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1994. 360 S. gr.8".
Kart. DM 49,80. ISBN 3-17-012847-7.

In der Flut der Literatur zum Thema „Bibel und Psychologie"
mangelt es an Arbeiten, die methodologische Reflexion leisten.
Was auf den Markt kommt, sind meist rasch gestrickte
„Anwendungsbücher", basierend auf intuitivem Uberzeugungswissen
; kaum jemand macht sich die Mühe, die psychologischen
Konzepte, mit denen er im Bereich der Theologie arbeitet
, eingehend zu erörtern und zu problematisicren. Angesichts
dieser Situation leistet Drechsel eine erfreuliche Reflexionsar-
beit, was aber auch bei einer Dissertation - eine solche ist das
Buch - zu erwarten ist; angenommen wurde die Dissertation
1993 von der Augustana-Hochschule Neuendettelsau.

D.s Thema ist nicht die psychologische Schriftauslegung,
sondern die Arbeit mit dem Text in Bibelgruppen; sie wird in
ein umfassendes pastoralpsychologisches Modell gebracht und
sowohl in theoretischen als auch in praktischen Aspekten
umfassend erörtert. Allerdings geht die Modellbildung, die D.
vornimmt, einseitig von der Psychologie aus. Der Vf. legt sich
zwar als Aufgabe auf, den biblischen Texten in ihrer Eigenart
gerecht zu werden, löst aber diesen Anspruch kaum ein. Meist
wird nur von der Psychologie aus gedacht, kaum von der Theologie
her und schon gar nicht von der Exegese. Der Charakter
biblischer Texte kann auch in Gruppenarbeiten, wo es um konkrete
Aneignung geht, nicht an jenen Ergebnissen vorbei erkannt
werden, die seitens der Bibelwissenschaften vorliegen.
Ein umfassendes Modell zur pastoralpsychologischen Bibelarbeit
müßte auch in der Exegese verwurzelt sein. D. geht es darum
, „den Bibeltext mit seinem religiösen Potential in der persönlichen
Illusionssphäre zu entfalten, neu zu schaffen und ihm
konkret Gestalt zu geben." Ja natürlich! Aber man muß aufpassen
, daß die „persönliche lllussionssphäre" sich nicht über den
Text erhebt und ihn zur bloßen Projektionsfläche degradiert.

Das Buch besteht aus 5 Teilen. Im ersten Teil nimmt der Vf.
eine Sichtung seines Themas vor - der pastoralpsychologischen
Bibelarbeit. Er bemüht sich hier u.a. um eine begriffliche Bestimmung
von „Bibelarbeit" und „Pastoralpsychologie". Im
Begriff „Pastoralpsychologie" sieht er „die Verbindung zweier
sich widersprechender, de facto sich gegenseitig ausschließender
Systeme. Sowohl Theologie wie auch letztlich die Psychologie
erheben Anspruch darauf, Ursprung. Verfaßtheit und Bestimmung
des Menschen zu erfassen und zu deuten. Sie erheben
also Anspruch auf die Erfassung von Ganzheit. Mehrer Ganzheiten
nebeneinander schließen sich aber gegenseitig aus!"
(20). Der Vf. rät zum Annehmen dieses Widerspruchs und er-