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Ausgabe:

1995

Spalte:

480-482

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Zelinka, Udo

Titel/Untertitel:

Normativität der Natur - Natur der Normativität 1995

Rezensent:

Vogt, Markus

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479

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 5

480

Freundschaft bei Bonhoeffer dar (37-46). Anhand der Leitfrage
nach dem Verhältnis von Bruderschaft und Freundschaft wertet
Sabine Bobert-Stützel insbesondere die Frühschriften im Blick
auf dieses Thema aus (89-109). Die Autorin faßt die Präzisierungen
, die sich bereits Ende der zwanziger Jahre abzeichnen,
mit folgenden Worten zusammen: „Strukturen, die Bonhoeffer
in Sanctorum Communio für das brüderliche Miteinander und
Füreinander entwickelte, hat er in dieser Zeit bereits auf die
Freundschaft übertragen. Fürbitte und selbst die Beichte finden
in der Freundschaft - und damit im alltäglichen Leben - einen
selbstverständlichen Ort. Sie bereichern es, statt es .religiös' zu
durchbrechen. Der ,Freund' verhilft der christlichen .Bruderschaft
' zur Weltlichkeit und damit zu einer Reichweite, die das
Ganze des Lebens einbezieht" (103f). Ernst Feil nimmt die Frage
nach einer theologischen Bewertung der Freundschaft bei
Bonhoeffer auf, stellt sie aber in einen grundsätzlicheren Horizont
(110-134). Ausgehend vom biblischen Sprachgebrauch
findet er zwei knappe Charakterisierungen für Bonhoeffers
Gedanken zum Thema: Freundschaft als „Nachfolge in Freiheit
" (123f) und als „Vergewisserung in Leben und Glauben"
(124t).

„Den Freund" selbst nimmt der Beitrag „Er freut sich hoch
über des Freundes Stimme". Eberhard Bethge als Hermeneut
von Werner Simpfendörfer in den Blick (51-88). Der Beitrag
enthält wichtige Beobachtungen zu diesem sehr interessanten
Thema, gerät aber insgesamt zu einer poetisch aufgeladenen
Lobrede. Im Anschluß an eine Meditation zum Thema „Der
Hermeneut als Künstler" beschreibt Simpfendörfer Eberhard
Bethges Bemühen um das Werk Bonhoeffers in Entsprechung
zu der Tätigkeit des Sehers Johannes. Hier wird für das Empfinden
des Rezensenten etwas dick aufgetragen. Es ist nicht falsch,
aber muß man sagen: „Eberhard Bethge... lebt als alter Mann
unter uns - als ,Seher'. Als im Gedenken Erinnernder. Als im
Chaos Deutender. Als in Hoffnung Warnender..." (60)?

In allen Beiträgen taucht die Frage nach dem Verhältnis der
Freundschaft zur Ehe und das heißt konkret der Beziehung
Bonhoeffers zu Eberhard Bethge und zur Verlobten Maria von
Wedemeyer auf (154-169).

So macht es Sinn, wenn Regine Schindler zum Abschluß des
Bandes Gedanken zu dem jüngst veröffentlichten Briefwechsel
/wischen Dietrich Bonhoeffer und seiner Verlobten formuliert.
Zu Recht spricht sie das Problem der Veröffentlichung so persönlicher
Äußerungen zweier Liebenden an, denen fast ausschließlich
das Mittel der Korrespondenz blieb, um zueinander
zu finden. Treffend wird aber auch der Wert des Briefwechsels
für ein Verstehen von Bonhoeffers theologischem Neuaufbruch
zusammengefaßt: „Die Liebe der beiden Verlobten, die sich in
den Brautbriefen ausdrückt, wirkt wie ein großer leuchtender
Punkt, während die Kriegsereignisse voranschreiten, die Konspiration
sich auf den 20. Juli 1944 hin zusammenschnürt und
Berlin bombardiert wird. Bonhoeffer bricht - menschlich -
sozusagen neu auf, und es scheint mir eindeutig, daß auch sein
theologisches Vermächtnis, von diesem Neuaufbruch her oder
mit diesem Neuaufbruch neu verstanden werden müßte" (158).
Nur wenn man diese aufbrechende Liebe im Blick hat, erschließen
sich zum Beispiel Bonhoeffers Äußerungen vom 20.
Mai 1944, wo er das Alte Testament und insbesondere das
Hohe Lied all denen entgegen stellt, die das Christliche in der
Temperierung der Leidenschaften sehen.

Mit diesem Band tritt Bonhoeffers Freundschaft mit Eberhard
Bethge und ihre Wirkungen auf seine Theologie endlich
plastischer hervor. Bethges 85. Geburtstag ist ein angemessener
Anlaß, diese Freundschaft, die ihre Erfüllung in der unermüdlichen
Editions- und Deutungsarbeit am Werk des Freundes
gefunden hat, in Erinnerung zu rufen.

Heidelberg Christoph Strohm

Zelinka, Udo: Normativität der Natur - Natur der Normativität
. Eine interdisziplinäre Studie zur Frage der Genese und
Funktion von Normen. Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag;
Freiburg-Wien: Herder 1994. 238 S. 8« = Studien zur theologischen
Ethik, 57. sFr 39.-. ISBN 3-7278-0934-5 u. 3-451-
23157-3.

Das Anliegen des Vf.s, „ein funktional adäquates Normverständnis
zu erarbeiten" (26), ist insofern von Interesse, als der
Vf. die Normanalyse über den im Handbuch der Christlichen
Ethik (Norm-, Institutions-, Identitätstheorie) gegebenen Standard
hinaus um Erkenntnisse der Soziobiologie und der Sozialpsychologie
ergänzen will. Die Zielgröße, auf die der Vf. sein
funktionales Normverständnis dabei bezieht, ist „das Gelingen
immer authentischeren Menschseins" (23, nach Korff). Individualisierung
und daran ansetzende moderne Normkritik (14-25)
nimmt der Vf. insofern positiv, aber zugleich kritisch auf, als er
zeigt, daß gerade auch die der Individualisierung gegenläufigen
Tendenzen zur Standardisierung (13f., nach Beck) die allgemeine
Suche nach funktional stimmigen Reglements widerspiegeln
. Diese gesellschaftlich immer noch dringliche, hier dezi-
diert aus dem Blickwinkel der genannten Wissenschaften gestellte
„Frage der Genese und Funktion von Normen" (Untertitel
) verbirgt sich hinter der äußerst gelungenen Titelformulierung
der interdisziplinär angelegten Studie: Vf. vermeidet es,
sich bei der Frage nach der „Normativität der Natur", d.h. hier
der normativen Relevanz biologischer und sozialpsychologischer
Forschung (Teile 2 und 3), in eine naturalistische Position
drängen zu lassen, indem er die Frage umkehrt und nach der
„Natur der Normativität", d.h. der Entstehung, Funktion und
Geltung von Normen fragt (Teil 4).

Teil 1 („Collegium Logicum") gliedert sich in anthropologische
(29-38) und methodische (38-56) Vorüberlcgungen. Klassisch
anhand von Gehlen und Plessner wird der Mensch als entwurfsoffenes
Wesen dargestellt, das im Gegensatz zum Tier sein
Leben zu führen hat. Lebensentwürfe als Sinnentwürfe sind von
daher zwar natural disponiert, immer aber in einen kulturellen
Horizont verwiesen. Mit Hilfe von Rahnerzitaten wird diese Ver-
wiesenheit darüber hinaus theologisch ausgedeutet. Das Normative
ist Weltgestaltung, die die empirischen Grunddaten der Natur
als Bedingungsfeld des Sittlichen miteinbezieht. Methodisch
differenziert werden von daher die unterschiedlichen Ebenen des
interdisziplinären Gesprächs mit den Naturwissenschaften dargestellt
(Dialog; Kombinatorik; Integration; Konvergenz). Der
Stand der theologisch-ethischen Reflexion zu dieser Problematik
ist umfassend aufgearbeitet und durchaus originell zusammengefügt
. Der Blick bleibt dabei allerdings auf die binnentheologische
Debatte beschränkt; die in jüngerer Zeit vehement geführte philosophische
Grundlagendiskussion um Interdisziplinaritäl,
Transdisziplinarität, .antipositivistische Wende' der Wissenschaftstheorie
etc. ist dagegen nicht rezipiert.

In Teil 2 (59-118) geht es nicht um die kritische Betrachtung
der Ethologie bzw. Soziobiologie im ganzen (hierzu verweist
der Vf. auf Knapp), sondern um die reflektierende Darstellung
ihrer allgemeinen Methoden (62-75: Differenzierung von Homologie
und Konvergenz, Zweck und Ursache, Teleologie und
Teleonomie, Tier-Mensch-Vergleich) und um die Frage, ob
„Arterhaltung" (klassische Ethologie) oder „Eigennutz" (Paradigmenwechsel
in der Soziobiologie) als Grundparameter .sozialer
' Verhaltensformen zu gelten hat. Gut gewählte, ersprießliche
Beispiele zieren die vergleichende Erörterung (75-1181.
Ergebnis: das ,Sozialvcrhalten' ist durch ein komplexes Ineinander
von ,Konkurrenz' und .Kooperation' unter der Prämisse
des ökonomischen - beim Tier freilich gänzlich unbewußt zum
Tragen kommenden - Kosten-Nutzen-Paradigmas bestimmt
(vgl. die Ausführungen zur Spieltheorie 106-111). Gewährsmann
für diesen Teil ist v.a. der Soziobiologe W. Wickler (61).