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Ausgabe:

1995

Spalte:

473-476

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Werbick, Jürgen

Titel/Untertitel:

Kirche 1995

Rezensent:

Wenz, Gunther

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 5

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Die Arbeit trägt ein immenses Material zusammen. Die Interpretation
und Auswertung ist sorgfältig, wenn auch knapp. Tafferner
beschränkt sich verständlicherweise im wesentlichen auf
systematische Theologen. Leider bleibt die moraltheologische
Diskussion ausgeklammert, die sich etwa in der Diskussion um
die „autonome Moral" ergeben hat. Erst recht stünde schließlich
eine Auseinandersetzung mit der empirischen Anthropologie,
besonders mit der Psychologie der Liebe aus. Aber das gäbe
auch für eine Habilitation mehr als genug Stoff. Bei allen Wünschen
, die man noch haben kann, ist das Werk in seiner jetzigen
Gestalt ein großer Gewinn für eine Theologie der Liebe. Es hat
1992 den ..Karl-Rahner-Preis für theologische Forschung"
erhalten.

Innsbruck Hans Rotter

Werbick. Jürgen: Kirche. Ein ekklesiologischer Entwurf für
Studium und Praxis. Freiburg-Basel-Wien: Herder 1994. 440
S. gr.80. Kart. DM 78,-. ISBN 3-451-23493-9.

Unter der in Luthers Schmalkaldischen Artikeln benannten
Voraussetzung, daß „gottlob ein Kind von 7 Jahren weiß, was
die Kirche sei" (ASm 111,12: BSLK 459,200, konnte man sich
ekklesiologisch kurz fassen: „Est autem ecclesia congregatio
sanetorum, in qua evangelium pure doectur et recte admini-
strantur sacramenta." (CA VII,1; vgl. BSLK 61,4-7) Mit den
Kindlein zu reden: die Kirche - das sind „die Heiligen, Gläubigen
und die Schäflein. die ihres Hirten Stimm hören" (FC |SD]
X; BSLK 1060.13-15: vgl. BSLK 459,2lf). Heute dagegen, wo
christliche Grundkenntnisse sowohl von Kindern als auch von
Erwachsenen immer dürftiger und die Kirchen immer leerer
werden, scheinen die Ekklesiologien an Zahl und Umfang stetig
zuzunehmen. Nach Vermutung von W.. der als Professor für
Fundamentaltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät
der Universität Münster lehrt, könnte das daran liegen, „daß
der Selbstrechtfertigungs- und Selbstdarstellungsbedarf der Kirchen
in Zeiten wachsender Infragestellung und Nichtbeachtung
erheblich gewachsen ist. Es könnte aber auch daran liegen, daß
das Abhandenkommen unbefragter Selbstverständlichkeiten die
Augen geöffnet hat für Dimensionen des Kircheseins und für
ekklesiologische Zusammenhänge, an denen die standardisierten
Ekklesiologien früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte kaum
Interesse zeigten, die aber heute Kirche als spannungsreiche
und gerade deshalb entwicklungsfähige Öffentlichkeit erscheinen
lassen." (II)

Der Kirche als einer spannungsreichen und möglicherweise
gerade deshalb entwicklungsfähigen Wirklichkeit ist W.s ekklesiologischer
Entwurf für Studium und Praxis gewidmet; er ist
nach Auskunft des Autors „von der Erfahrung motiviert, daß
Kirche spannend wird, wenn... Spannungen wahrgenommen
werden und zum Austrag kommen dürfen" (11). Nicht der
ekklesiologische Begriff kirchlichen Wesens in seiner unvermittelten
Idealität bildet daher den Ausgangs- und zentralen
Bezugspunkt der Überlegungen. Deren Reflexivitäl ist vielmehr
bildlich bestimmt, insofern W. sich argumentativ durchweg an
den überlieferten Grundmetaphern für Kirche orientiert, um die
in ihnen zur Darstellung gebrachten, begrifflich nicht aufhebbaren
Spannungen nachzuzeichnen und von ihnen her die kirchliche
Wirklichkeil zu verstehen. Das ist ihm gelungen - und zwar
in außerordentlich differenzierter, gedankenreicher und spannender
Form.

Damit er die Kirche - unbeschadet ihrer Unansehnlichkeit - als das
Medium verstehen könne, in welchem der unsichtbare Gott zum Vorschein
kommt, um sichtbar und wahrnehmbar zu werden, spürt W. programmatisch
den klassischen Kirchenmetaphern nach, in denen Wesen und Wirklichkeit
der Kirche auf eine Weise verbunden werden, welche die nichtsyn-
thetisierbare Differenz beider Aspekte beachtet, ohne sie einfachhin zu

trennen und auseinanderzudividieren. Einsichten moderner Theorie symbolischen
Redens kommen W. dabei zugute: danach vollziehen Metaphern
„eine Prädikation, bei der das Prädikat, das dem Subjekt zugesprochen
wird, aus einem Gegenstandsbereich genommen ist, dem das Subjekt an
sieh nicht zugehört" (38). Sie können daher nur dann angemessen verstanden
werden, „wenn das Verstehen herausfindet, wie Subjekt und Prädikat
trotz dieser offensichtlichen Unvereinbarkeit so zusammengehören, daß das
sachhereichslremde Prädikat das Subjekt nach der jeweiligen Bildlogik in
erhellender Weise zur Sprache bringt" (38f). In ekklesiologischer Hinsicht
erprobt W. dieses Verständnis zunächst an der Volk-Gotles-Metaphorik und
der Civitas/Societas-Dei-Tradition. deren Bedeutung und Problematik unter
Aufwand hoher systematischer und historischer Gelehrsamkeit und unter
ständigem Bezug auf das DL Vatikanische Konzil, dessen Geist sich der
Autor verpflichtet weiß, erörtert werden. Es folgen Untersuchungen zu sozial
-institutionellen und zu Gebäudemetaphern wie Tempel. Haus, Haushalt
und Familie Gottes. In diesem Kontext handelt W. nicht nur höchst kenntnisreich
von der christlichen Rezeption der hellenistischen Oikos-Ideologie.
er beklagt zugleich die fortschreitende Verdrängung der Frauen aus gemeindlichen
Leitungsfunklionen und gelangt in argumentativ dichten und
eindrucksvollen Ausführungen zum Priestertum der Frau zu Ergebnissen, in
bezug auf welche er einleitend wohl nicht zu Unrecht die Vermutung
äußert, sie würden „dem kirchlichen Lehr- und Leitungsamt als zu weitgehend
erscheinen" (15). Daran dürfte aller Voraussicht nach auch die traditionellerweise
stark weiblich geprägte Kirchenmetaphorik nichts ändern,
der sich W. in einem weiteren Kapitel zuwendet, in welchem er u.a. von der
Kirche als jungfräulicher Braut und Mutter der Gläubigen handelt. Es folgen
Erwägungen zu ekklesiologischen Metaphern der Geborgenheit und der
Rettung, die nicht selten dem nautischen Bereich entlehnt sind. Einen zweiten
Höhepunkt der Darstellung nach den Analysen zur Volk-Gottes-Meta-
phorik stellen sodann die Reflexionen zur Bezeichnung der Kirche als Leib
Christi dar, deren mögliche hierarchologische und antiökumenische Konnotationen
kritisch diskutiert werden. Ohne die organologisehe Leibmeta-
phorik einfachhin verabschieden zu wollen, ist W. bemüht, sie in den
Zusammenhang einer Communio-Ekklesiologie zu integrieren, welche Kirche
von der göttlichen Ur-Wirklichkeil des Teilens und des Anteilgebens
her versteht. In diesem Kontext, der neben dem Problem des Verhältnisses
von Priestertum aller Getauften und ordinationsgebundenem Ann sowie
dessen hierarchischer Gliederung bis hin zum Papstamt auch der Frage der
Koinonia der Kirchen gewidmet ist. kommt u.a. die ekklesiologische Metapher
der Schafherde zu Ehren, von der die vorliegende Rezension ihren
Ausgang genommen hat, ohne damit allerdings ein Werturteil verbinden zu
wollen: Läßt sich doch nicht leugnen, daß die Schaf-Herde(grex)-Hirte-
Symbolik auch bedenkliche Assoziationen hervorrufen kann. W.s ekklesiologischer
Entwurf sehließt mit der Thematik der Kirche als Grundsakrament
. Das ist nicht zuletzt deshalb von innerer Konsequenz, als ekklesiale
und Sakramentsmetaphorik von Anfang an einen Zusammenhang bilden,
wie das durch den das sakramentale Handeln der Kirchen selbst kennzeichnenden
bildhaften Beziehungsreichtum ja auch nahegelegt ist.

Insgesamt gelangt W. zu folgendem Resümee: „Nimmt man die Kirchenmetaphern
auch in ihrer Befremdliehkeit - mitunter: Anstößigkeit - ernst,
achtet man auf die Spannungen, die sieh zwischen ihnen herstellen, so
ergibt sich kein glattes, abgezirkeltes Kirchenbild, sondern eben die ganze
Befremdlichkeit, die die Situation der Kirche ausmacht und so spannungsvoll
macht. Gott selbst ist ja eine befremdliehe Wirklichkeit nicht nur für
.die Welt', sondern auch für eine vielfach .gott-entfremdete' Kirche. Er ist
gerade darin ein befremdlicher Gott, daß er - gegen alle .Menschenlogik' -
an dieser Kirche festhält, sie bei all ihrer Untreue zum wirksamen Zeichen
seiner Treue, bei all ihrer Unzugängliehkeit zum Realpunkt seiner Zugänglichkeit
und Zuneigung macht. Die Kirchenmetaphern sprechen von dieser
Befremdliehkeit; sie sprechen von einem Zusammengehören, das ganz, und
gar nicht selbstverständlich ist und nur in der treuen Entschlossenheit Gottes
gründet, diese oft so befremdlich geistlose und gottverdrängende Kirche
nicht der ..Geistlosigkeit' preiszugeben, sie immer wieder neu mit sich
zusammenzubringen, zum wirksamen Zeichen seiner Zuneigung zu
machen." (4281) In Anbetracht dieses Resümees überrascht es nicht, wenn
W. mit der Feststellung endet, das skizzierte Kirchenverständnis entspreche
„der für jede Ausprägung christlichen Glaubens normativen Rechtfertigungslehre
'. Gott und Jesus Christus haben den Heiligen Geist und nicht die
Leistung der Glaubenden zum Medium ihrer Präsenz in dieser Welt" (430;
vgl. Gemeinsame rümisch-kalholischc/evangelisch-lutherisehe Kommission
[Hg.]) Kirche und Rechtfertigung. Das Verständnis der Kirche im Lieht
der Rechtfertigungslehre, Paderborn/Frankfurt a.M. 1994).

Angesichts einer nicht nur in dieser Feststellung sich bekundenden
ollenbaren Nähe zum Ansatz protestantischer Ekklesio-
logie mag eine kurze Betrachtung der Rolle als nützlich erscheinen
, welche der Kirchenlehre Luthers in W.s Konzept zugedacht
wird. In einer ersten Erwähnung begegnet der Reformator
als Kronzeuge einer Auffassung, welche „das .Wesen' der Kir-