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Ausgabe:

1995

Spalte:

471-473

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Tafferner, Andrea

Titel/Untertitel:

Gottes- und Nächstenliebe in der deutschsprachigen Theologie des 20. Jahrhunderts 1995

Rezensent:

Rotter, Hans

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 5

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unterstützen. („Was die Mütter in den Elendszonen der Welt leisten, ist
unermeßlich und für alle Männer beschämend", 232). Immer wieder kann
der Vf. als Verfechter notwendiger ökodomischer Phantasie auf Hinrichtungen
verweisen, die alte Kulturen bereits hatten (z.B. 213. 233)! - Als Alternative
zur Verelendung durch wirtschaftliche Misere sieht der Vf. würdige
Armut (235) - die nur hei anspruchsvoller Genügsamkeit in den reichen
Ländern (237) zu realisieren ist. Dem Segen des Sabbats (den die Christenheit
noch kaum entdeckt habe; 242f.) würden, entlastend und bereichernd.
Sabbatjahre als vorgezogene Rentenjahre entsprechen (245).

Von den wichtigen Ausführungen zu den christlichen Sakramenten
erwähne ich nur die Forderung der offenen Eucharistie.
..Das Sakrament, welches das Symbol des Für-andere-Daseins
ist, muß wesentlich für alle dasein" (254). Verweigerte Mahlgemeinschaft
verursache die Stagnation in der ökumenischen
Bewegung! (257)

Der kurze Schlußteil trägt den Titel Kinder des Geistes
(259ff.), nach Lk 9,55. Er endet mit dem Hinweis auf das in der
Tat Hoffnungsvollste: daß wir vor Anfang der Welt geliebt
sind. (Das ist allerdings nicht nur von der englischen Mystikerin
zu lernen, auf die die Vfn. sich beruft!)

Trotz hier und da angedeuteter und zum Teil zurückgehaltener
Kritik - schon die Ausgangsthese 2 bedürfte zumindest der
Klärung! - kann ich K. Raiser voll zustimmen, wenn er zu diesem
Buch schreibt: „Es erschließen sich sehr fruchtbare neue
Perspektiven, und die eigene Phantasie wird vielfältig angeregt"
(Klappentext). J. Möllmann hat gar urteilen können, er habe „in
den letzten Jahren nichts Besseres gelesen" (ib.). (Ganz nebenbei
wünschte ich einem so gewichtigen Buch weniger Druckfehler.)

Haan/Wuppertal Jürgen Fangmeier

Taf'f'erner, Andrea: Gottes- und Nächstenliebe in der deutschsprachigen
Theologie des 20. Jahrhunderts. Innsbruck-
Wien: Tyrolia 1992. 336 S. 8° = Innsbrucker theologische
Studien, 37. Kart. öS 340.-. ISBN 3-7022-1840-8.

Die vorliegende Münsteraner Dissertation beschäftigt sich mit
dem zentralen theologisch-ethischen Thema der Liebe und gibt
dazu einen Durchblick durch die deutschsprachige Theologie
des 20. Jh.s. Behandelt werden führende systematische Theologen
und eine weniger bekannte protestantische Theologin, nämlich
Maria Fuerth. Nach jeder Darstellung folgt eine kritische
Würdigung.

T. will eine kontextuelle Monographie vorlegen. Sie will also
Theologie nicht subjektlos darstellen, sondern auf dem Hintergrund
des jeweiligen Theologen und des geschichtlichen
Zusammenhangs, in dem er steht. Das zeigt sich in der Beschäftigung
einzelner Autoren etwa beim Thema des Judentums, des
Volkstums und überhaupt des Gedankengutes des Dritten Reiches
. Es ist erstaunlich bis haarsträubend (z.B. bei K. Adam,
weniger drastisch bei F. Gogarten), was Theologen zu diesem
Thema über die Lippen gebracht haben. Man hätte sich freilich
wünschen können, daß über die aktuellen Bezüge hinaus der
eigentliche theologische Ansatz selbst (etwa die liberale, die
dialektische, die transzendentale Theologie oder die „Theologie
nach Auschwitz") noch grundsätzlicher vom kontextuellen
Ansatz her gedeutet wird.

T. geht von einer kurzen Darstellung aus. wie das Doppelgebot
der Liebe in den beiden ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts
verstanden wird, bei A. v. Harnack und W. Lütgert auf evange-
Iischer und bei P. Rousselot, H. Schell und W. Liese auf katholischer
Seite. Kurz wird das Ende des Ersten Weltkriegs und die
Zeit danach charakterisiert. Einflüsse der Philosophie und des
völkisch-antisemitischen Denkens werden herausgestellt.

Der Hauptteil dokumentiert dann das gewählte Thema. Die
Position der 13 behandelten Autoren sei kurz angedeutet: Bei
Karl Barth (24-53) fällt die „unüberbrückbare Kluft" zwischen

Gott und Mensch auf. Der anthropologiefeindliche Ansatz führt
zu einer Abwertung des Menschen. Dieser ist nur wichtig, „weil
er Anlaß zur Gotteserkenntnis ist" (31). - Nach Karl Adam (53-
66) wird in der Gottesliebe der Mitmensch mitgeliebt. Die Unterscheidung
zwischen jüdischen und galiläischen Juden soll die
Koexistenz von Christentum und Antijudaismus ermöglichen. -
Friedrich Gogarten (66-89) gibt in seinem Personalismus dem
Du die Priorität vor dem Ich und kommt zu einer überstarken
Betonung der Autorität. - Für Rudolf Bultmann (89-102) verzichtet
Jesus auf jede Konkretisierung des Liebesgebotes durch
einzelne Vorschriften und vertritt eine eschatologische Ethik.
Glaube und Gottesliebe werden mehr und mehr als Einheit
gesehen. - Emil Brunner (102-120) setzt christozentrisch an
und gelangt so zu einer ausgeprägten Offenbarungsethik. Daraus
ergibt sich auch eine kritische, ablehnende Haltung zur
Mystik als Menschenwerk. Positiv ist hingegen die Entfaltung
der sozialen Dimension. - Dietrich Bonhoeffcr (121-146) vertritt
ebenfalls eine betonte Christozentrik. Gottesdienst und
Bruderdienst gehören aber zusammen. - Der Schwede Anders
Nygren (146-157) wird wegen seiner engen Verbindung mit der
deutschen Theologie und wegen der Bedeutung seines Hauptwerkes
für die hier behandelte Thematik unter die sonst ausschließlich
deutschsprachigen Autoren aufgenommen. N. vertritt
wieder eine ausgeprägte Theozentrik und sieht die Liebe als
alleinige Tat Gottes, was zu einer radikalen Scheidung von
Gottes- und Nächstenliebe führt. Vorausgesetzt ist ein theologischer
Antijudaismus. - Maria Fuerth (157-164) findet bei einer
ähnlichen protestantischen Grundposition für 1933 sehr mutige
Worte gegen den Nationalsozialismus. - Für Hans Urs von
Balthasar (164-188) ist die Liebe der Sammel- und Ausgangspunkt
seines Denkens. Gottes- und Nächstenliebe bilden eine
Einheit. Dabei wird der Nächste als Sakrament verstanden. Der
Glaube ist die Voraussetzung der Liebe. - Viktor Warnach
(188-200) versucht eine breite Auseinandersetzung mit dem
Werk Nygrens. Liebe hat einen pneumatischen Charakter. Die
atl. Frömmigkeit habe aber auf der Stufe oft knechtlicher Gottesfurcht
verharrt im Gegensat/, zur vertrauenden otl. Gottesliebe
. Biblische „agape" ist fern von jedem Aktivismus. Menschliche
Not wird bei V.W. verharmlost. - K. Rahner (200-229)
beginnt mit einer Untersuchung über die eestasis, die eine
..unmittelbare Gotteserfahrung" impliziert. Er nimmt ausführlich
die Sicht des Ignatius v. Loyola von der Liebe zu Gott und
der Well auf. Sehr wichtig ist die Theologie der Menschwerdung
. Die absolute Annahme einer Person schließt immer schon
die Gottesliebe ein. Nächsten- und Gottesliebe bilden also eine
Einheit. - Johann Baptist Metz (229-250) führt zunächst Gedanken
K. Rahners weiter und entwickelt dann seine politische
Theologie. Liebe nimmt hier mehr und mehr die Form der Solidarität
mit den Leidenden an. Dabei ist nach Auschwitz ganz besonders
die Leidenserfahrung der Juden wichtig. - Eberhard
Jüngel (250-263) zeigt eine spezifisch protestantische Zurückhaltung
gegenüber dem Liebesgebot, das als Gesetz deutlich
vom Glauben abgehoben wird. Gottes- und Nächstenliebe sind
nicht zu verbinden, die Menschheit Jesu tritt in den Hintergrund.

Ein weiterer kurzer Teil trägt die Ergebnisse der geschichtlichen
Untersuchung systematisch zusammen. Es geht um den
theologischen Ort des Themas, der primär in der Gnadenlehre
gesehen wird, um konfessionell geprägte Akzentsetzungen und
um das Spezifikum christlicher Liebe.

Abschließende Überlegungen fordern, bei der Interpretation
des Doppelgebotes vom Kontext des Lebens Jesu auszugehen.
Das erhellt auch die Bedeutung des Liebesgeboles für die Chri-
stusgläubigen unter den Heiden. Konkret fordert Nächstenliebe
die „Vorleistungen erbringende Zuwendung" (Peukert) zum
andern. Die Liebe zu Gott äußert sich in Klage und Lob. - Nach
den üblichen Indices folgt noch eine umfangreiche chronologische
Bibliographie zum Doppelgebot von 1900-1990.