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Ausgabe:

1995

Spalte:

465-467

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Gelder, Katrin

Titel/Untertitel:

Glaube und Erfahrung 1995

Rezensent:

Müller, Hans Martin

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Theologische Litcraturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 5

466

Systematische Theologie: Dogmatik

Gelder, Katrin: Glaube und Erfahrung. Eine kritische Auseinandersetzung
mit Gerhard Ebclings „Dogmatik des christliehen
Glaubens" im Kontext der gegenwärtigen evangelisch-
theologischen Diskussion. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener
Vlg 1992. XI. 209 S. 8° = Neukirchener Beiträge zur Systematischen
Theologie. Bd. 11. ISBN 3-7887-1406-9.

Die religiöse Erfahrung hat in der theologischen Diskussion der
Gegenwart in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen.
Nachdem bereits im 19. Jh. ..Erfahrung" gegenüber einer spekulativ
orientierten Theologie zu einem Schlüsselbegriff avanciert
war, schien sich ihm unter dem Einfluß der Religionspsychologie
ein weites Feld der theologischen Erkenntnislehre zu eröffnen
. Demgegenüber hat die Dialektische Theologie eine Vermittlung
von Erfahrung im hergebrachten Sinn und Offenbarung
verneint und die Erörterung des Problems zunächst
blockiert. Erst unter dem Einfluß der interdisziplinären Arbeit
mit Psychologen und Pädagogen und später im Verein mit
charismatischen, feministischen und befreiungstheologischen
Ansätzen wurde die Erfahrungsthematik seit den fünfziger Jahren
unseres Jahrhunderts wieder in die Theologie eingeführt,
ohne daß es zu einer Klärung gekommen wäre. Die Systematische
Theologie bemühte sich dann, das Thema durch die Anstrengung
des Begriffs in geordnete Bahnen zu lenken (G. Ebe-
ling, E. Herms. J. Track u.a.).

Dem Erfahrungsbegriff bei Gerhard Ebeling gilt K. Gelders
Untersuchung, die in einer ausführlicheren Fassung der Theologischen
Fakultät Erlangen 1989 als Dissertation vorgelegen hat.
In der Einleitung skizziert die Vfn. die „theologische Relevanz,
der Erfahrungsthematik" sowie den „Zusammenhang von Glaube
und Erfahrung" (25) in der gegenwärtigen Diskussion. Für
die Wahl der Theologie Ebelings als näheren Gegenstand ihrer
Arbeit gibt die Vfn. drei Gründe an: Ebelings Rückgriff auf „die
grundlegenden Einsichten Luthers", die explizite Rücksicht auf
die Erfahrungsthematik in Ebelings „Dogmatik des christlichen
Glaubens" und die Aufforderung zum Dialog, die sie aus Ebelings
Darlegungen herausgehört hat. G. gliedert ihre Untersuchung
in zwei Teile : Zunächst unternimmt sie eine „systematisch
-kritische Rekonstruktion" des Verständnisses und der
Punktion von Erfahrung in Ebelings Dogmatik. im zweiten Teil
set/t sie sieh kritisch mit dem Zusammenhang von Glaube und
Erfahrung bei Ebeling auseinander. Zwölf Thesen am Ende sollen
„Impulse für die weitere Diskussion" vermitteln.

Die Rekonstruktion zeigt, wie bei Ebeling die Möglichkeit
von Erfahrung in einer ontologischen bzw. anthropologischen
Grundsituation begründet ist: Menschsein ist „In-Beziehung-
Sein", genauer ein Gott im Gewissen verantwortliches Sein. Es
wird als „Sein unter dem Gesetz" theologisch qualifiziert.
Damit ist religiöse Erfahrung als Gesetzeserfahrung bestimmt.
Die Glaubenserfahrung des Christen unterscheidet sich davon,
insofern sie „Erfahrung mit Jesus" ist, die bei Ebeling „trinitäts-
theologisch reflektiert" wird. (67) Nach einem kurzen Blick auf
die philosophischen Implikationen wendet sich die Vfn. den
Funktionen der Erfahrung im Glaubensprozeß zu. Erfahrung hat
hier zunächst eine vorbereitende Funktion: „Mit der Erfahrung
von Sprache in ihrer für das Menschsein grundlegenden Bedeutung
beginnt für den Menschen, was sich in der Erfahrung des
Wortes Gottes vollendet: Erfahrung des Angeredetseins und des
Anredens". (117) Dies vorbereitende Geschehen wird durch das
Zum-Glauben-Kommen dialektisch gebrochen: „Die radikale
Veränderung der Situation des Menschen im Glauben, an der
die vorfindliche Lebens- und Erfahrungswirklichkeit ihre Grenze
findet, wird durch die .Erfahrung mit Jesus' eingeleitet".

(120 f.) Es bleibt an dieser entscheidenden Stelle allerdings
unklar, wodurch sich die Christusoffenbarung als Erfahrung
mit Jesus qualifiziert. Hier hätte die Vfn. sich näher auf Ebelings
Sprachverständnis einlassen müssen. Statt dessen wendet
sie sich kritisch der Vermittlungsproblematik zu: „Die Ebeling-
sche Doppellinie in der Argumentation in bezug auf Schöpfungstheologie
einerseits und Christologie andererseits, Anknüpfung
zum einen und Sprung und radikale Veränderung
zum anderen entspricht im Bereich der Vermittlungslhematik
die Doppellinie zwischen dem Ansprechen der Menschen auf
ihre bisherigen Erfahrungen mit dem Ziel der Hinführung zum
Glauben zum einen und der völligen Untätigkeit und Zurücknahme
in Bezug auf die Vermittlung der neuen Erfahrungen des
Glaubens zum andern". (126) Daß sieh hinter der „Doppellinie"
die für Ebeling (und die paulinisch-lutherische Theologie)
grundlegende Dialektik von Gesetz und Evangelium und hinter
der „Untätigkeit" der ebenso grundlegende Rechtfertigungsglaube
verbirgt, wird von G. nicht genügend beachtet. Darauf
deuten auch ihre Bemerkungen zur Rolle von kirchlichen
Gemein-schaftscrfahrungen beim Entstehen von Glauben und
zum Sün-denbewußtsein hin (128 f.)

Unter diesem Aspekt verliert die kritische Auseinandersetzung
im zweiten Teil an Überzeugungskraft. Die Kritik wird
allerdings in sehr vorsichtiger Form geäußert, indem jeweils zunächst
die positiven Aspekte der Theologie Ebelings herausgestellt
werden, an die sich dann kritische Anfragen ansehließen.
Diese beziehen sich auf drei Komplexe: auf die Evidenz der
Glaubenserfahrung, auf die Bedeutung des Wortes Gottes im
Verhältnis zu Aktivität und Passivität des Mensehen beim Entstehen
von Glaubenserfahrung und auf die „Anknüpfung" der
Glaubenserfahrung an die Lebenserfahrung.

Die Evidenz der Glaubenserfahrung ergibt sich aus dem
Zusammenspiel von Anfechtung und Gewißheit. Aber „der
Glaube hängt nicht an der Gewißheitserfahrung des Menschen,
sondern an dem Wort Gottes, das immer neu Gewißheit zu
schenken vermag". (154) Gegen diese von Ebeling eingeschärfte
reformatorische Erkenntnis möchte G. einwenden, daß „die
Anfechtung ebenso wie die Gewißheit als ein Element der
Glaubenserfahrung selbst anzusehen" ist. (Ebd.) Hier verwechselt
sie die von Ebeling gemeinte allein Evidenz bewirkende
Kraft des Wortes Gottes mit den von ihm ausgelösten menschlichen
Empfindungen.

Khcling sieht in der ..Totalerl ahrung" mit Jesus, wie sie die ersten Zeugen
gemacht und weitergegeben haben, den Anfangspunkt des rechtfertigenden
Glaubens. G.s Einwand, dies sei eine rüekwärtsgewandte Perspektive
und Ebeling schöbe damit die „Einübung des neuen Seins" in der
Gemeinschaft der Glaubenden als llrsprungsort neuer Glaubenserlahmn
gen weg (164 f), wirft schwerwiegende Fragen nach der Geltung des „solus
Christus" und der Abweisung aller Werkgerechtigkeit auf. die hier nicht
ausdiskutiert werden können. Sie hangen mit dem Glaubensverstandiiis
zusammen, das mit der Formel Aktivität/Passivität nicht erfaßt werden
kann: Glauben als ein sich der treuen Liebe Gottes Anvertrauen ist wie alle
personale Beziehung ein „mediales" Gesehehen, das mit der Aktivität der
Weltgestaltung, die sich ihren Ursprung im Glauben selbst zuspricht,
nichts /.u tun hat. (174)

Sind diese gewichtigen Anfragen an Ebelings Auffassung des
Verhältnisses von Glaube und Erfahrung schon ihrerseits fragwürdig
, darf man die weniger gewichtigen vernachlässigen. Sie
beziehen sich auf die positiven Lebenserfahrungen, die angeblich
als Anknüpfung für neue Glaubenserfahrungen dienen können
und von denen Ebeling nichts wüßte, oder auf die Rolle der
„synchronen" kirchlichen Gemeinschaft als einer Erfahrungsgemeinschaft
, die die Vereinzelung des einsam Glaubenden
überwinden. Hier ist die Vfn der „nachneuzeitlichen" Versuchung
erlegen, die die Zweideutigkeit aller Lebenserfahrung
(Deus verax - homo mendax) und die Kierkcgaardsche Kategorie
des Einzelnen für obsolet erklärt.

Alles in allem eine bedenkenswerte Untersuchung, die in
ihrer Gründlichkeit und durch ihren kritischen Ansatz dazu