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Ausgabe:

1995

Spalte:

462-464

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Titel/Untertitel:

Frühe Predigten 1995

Rezensent:

Fischer, Hermann

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 5

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und anderen Subjekten angelegt. Bei Hamann sind diese
Gedanken Teile einer ..Theologie", die sich erst sekundär „her-
meneutisch reformulieren" (89)läßt. V.a. Herder und dann auch
Fr. Schlegel stehen für die Entschränkung und Verallgemeinerung
von Hamanns Einsichten. Herder (97-1 38) weist appellativ
auf die vorrenexive ..Erfahrung einer evidenten, unmittelbaren
Gegenwart" (128) als Grundakt des Verstehens hin, das „selbstverständlich
" ist und „eine Garantie für seine Gewißheit im vor-
begrifflichen Gefühl" (131) hat. Er kann diese Hinsichten
jedoch nicht mit theoretischem Gültigkeitsanspruch legitimieren
.

Ist für Herders Thesen zum Verstehen die Vielgestalligkeit
und Omnipräsenz des Phänomens charakteristisch, so wird das
Thema bei Fr. Schlegel (139-159) auf die Philologie, die ihrerseits
der Historie ein- und untergeordnet ist, hin zugespitzt und
eingeschränkt. Seine anspruchsvollen einschlägigen Gedanken
hat er jedoch nicht wirklich ausgeführt (vgl. 148), und so veranschlagt
der Vf. deren Einfluß auf Sehl, denkbar niedrig: Er
„verbleibt im diffusen, nicht weiter fixierbaren Bereich von
Zeitgenossenschaft und regem persönlichem Auslausch" (156).

Den Höhepunkt der Arbeit bildet das Sehl.-Kapitel (161-
179): Dessen Hermeneutik wird präzise in sein System der Wissenschaften
eingeordnet. Sodann wird hieran anknüpfend ihr
„Motiv präzise bestimmt: Sie ist eine „Kunstlehre", d.h. sie
intendiert die Aufklärung und Verbesserung einer längst schon
geübten Tätigkeit. Hermeneutik ist notwendig, weil sich immer
und überall schon Verstehen vollzieht, das jedoch immer von
der Möglichkeit des Miß- oder Unverständnisses bedroht ist.
Die beiden Fragerichtungen der Schi.sehen Hermeneutik, die an
der Sprachgestalt orientierte grammatische und die an der
Autorperson und ihrer Lebenswelt orientierte technisch-psychologische
, haben die gemeinsame Aufgabe, „eine intersubjektiv
ausweisbare Rekonstruktion des Sinns zu leisten, also Ergebnisse
mit Wissensstatus zu liefern" (177).

Der leider sehr kurz gefaßte Schlußabschnitt (179ff.) verortet
noch einmal rückblickend Schl.s Hermeneutik im Spannungsfeld
ihrer in sich disparaten Vorgeschichte: Schl.s Hermeneutik
ist „subjektzentriert" (181). das verstehende Subjekt ist der
primäre Gegenstand der Theorie. Diese Grundorientierung sowie
das in ihr leitende „mediale Sprachverständnis" weisen
Schi, als Exponenten derjenigen problemgeschichtlichen Reihe
aus. die mit Hamann begonnen hat. Anders als Hamann. Herder
und Schlegel insistiert Sehl, jedoch auf dem kritisch-wissenschaftlichen
, intersubjektive Gültigkeit beanspruchenden Charakter
des sich hermeneutisch reflektierenden Verstehens. Es
halte noch etwas deutlicher herausgearbeitet werden können,
inwiefern Schi, damit dann doch wesentliche Stücke aus dem
Erbe der Geologischen Bibelhermeneutik bewahrt und tradiert
hat. Wie sehr er dieser in den Vorgaben und Fragestellungen
der historischen Einzelarbeit verhaftet geblieben ist, das zeigen
ja v.a. seine Arbeiten zur ml. Exegese, die der Vf. als Philosoph
vom Fach und im Rahmen seiner Fragestellung natürlich nicht
berücksichtigt hat.

Von dem Detailreichtum, der diese Studie allenthalben auszeichnet
, kann mein kurzes Referat leider keinen angemessenen
Hindruck vermitteln, ebensowenig von der Sorgfalt im Umgang
mit anderen Forsehungsleistungen. Der Vf. bezieht sehr kundig
systematisch-philosophische, Philosophie-, theologie- und literaturgeschichtliche
Fragestellungen aufeinander und kann so
von der Vorgeschichte der Hermeneutik Schl.s ein vielfach neues
Bild von eindrücklicher Tiefenschärfe zeichnen.

Göttingen Martin Ohst

Tillich, Paul: Frühe Predigten (1909-1918). Hrsg. und mit
einer historischen Einleitung versehen von E. Sturm. Berlin-
NewYork: de Gruyter 1994. XVI, 694 S. gr.8° = Ergän-
zungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken von
Paul Tillich, 7. ISBN 3-11-014083-7.

Mit den frühen Predigten Tillichs liegt ein gleich in mehrfacher
Hinsicht außerordentlich wichtiges und interessantes Dokument
der Werke Tillichs und seiner theologischen Entwicklung vor.
Der Band rückt erstens und noch einmal eindrücklich ins
Bewußtsein, daß der junge Tillich über einen Zeitraum von 10
Jahren zusätzlich zu seiner akademischen Fortbildung als Prediger
im Diensie seiner Kirche stand, von 1909-1914 im Rahmen
der theologischen Ausbildung als Vikar und Hilfsprediger in
seiner Berlin-Brandenburgischen Landeskirche, von 1914-1918
als freiwilliger Heldgeistlicher in verschiedenen Kampfgebieten
an der Westfront, zuletzt für kurze Zeit als Garnisonspfarrer in
Spandau. Vor seiner akademischen Tätigkeit als Privatdozent in
Berlin und später als Professor hatte Tillich sich also erst einmal
im praktischen Dienst zu bewähren. Der Band vermittelt
zweitens, im Medium der Predigt und des tröstenden Zuspruchs,
einen Einblick in die theologische und philosophische Gedankenwelt
des jungen Tillich und in die allmähliche Veränderung
der Akzente. Er ist insofern auch aufschlußreich für die Deutung
des 1. Weltkriegs als Katastrophe und als Zäsur der bisherigen
kulturellen und geistigen Geschichte der Neuzeit. Die Predigtsammlung
ist drittens aufschlußreich als Keimzelle späterer
Themen und Probleme in Tillichs philosophischer Theologie.
Und schließlich könnte die Veröffentlichung zu einem Vergleich
der Predigttätigkeit Tillichs in dieser Frühzeit und in der
Spätzeit, wie sie sich in den 3 Bänden der „Religiösen Reden"
niedergeschlagen hat, anregen.

Der Hg. bietet die durchnumerierten Predigten Tillichs in
zwei Hauptteilen. Der I. Teil umfaßt die Predigten von 1909-
1914 (17-353 = 67 Predigten), der II. die Predigten von 1914-
1918 (355-665 = 106 Predigten und Grabansprachen). Abschließend
wird noch ein Verzeichnis von insgesamt 43 nicht-
edierten Predigthandschriften geboten, die sich über den ganzen
Zeitraum erstrecken, aber nur in Fragmenten oder Skizzen
erhalten sind (666-670).

An den Predigten Tillichs besticht die klare Textbindung und
zugleich die thematische Zuspitzung auf die grollen Fragen des
Lebens und des Glaubens. Er nutzt die Chance der Texts orgahe
, aber er vertiert sich nicht in Details, sondern klopft die Texte
auf Antworten und Trost für die Grundsituationen menschlicher
Existenz ab. Dabei überrascht der Ernst des bei Beginn
seiner Predigttätigkeit erst 22jährigen Theologen. Die Passionsandachten
von 1909 thematisieren u.a. die „satanische Versuchung
" Jesu (30), den Ernst des Kreuzestodes, den „schweren
Anstoß" der Verkündigung Jesu und schärfen die paradoxe
Zusammengehörigkeit von Gericht und Gnade ein (32). „Als
Gott das vollkommene Gericht über die Menschheit vollzog, da
offenbarte er seine vollkommene Gnade" (57). Auch später
wird diese Thematik aufgenommen (z.H. 284-288). „Gott sag!
nie ja, ohne zugleich nein zu sagen, und nie nein, ohne zugleich
ja zu sagen" (291).

Diese Passionsandachten und auch die folgenden Predigten
bringen die Zusage des Evangeliums, aber auch die harten
Wahrheiten über den Menschen unverkürzt und unbesehönigl
zur Geltung, manchmal mit Anklängen an Kierkegaard (72, 77).
Schon die Predigten des I. Hauptteils lassen wenig von einer
kulturoptimistischen Grundgeslimmtheil oder dem Lebensenip-
finden relativer Sicherheit in den Friedensjahren vor dem 1.
Weltkrieg erkennen. Von den unterschiedlichsten Seiten her
wird die Gebrochenheit menschlicher Existenz ausgeleuchtet
und auch die Gottverlassenheit des Frommen nicht ausgespart