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Ausgabe:

1995

Spalte:

460-461

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schnur, Harald

Titel/Untertitel:

Schleiermachers Hermeneutik und ihre Vorgeschichte im 18. Jahrhundert 1995

Rezensent:

Ohst, Martin

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 5

460

in seiner Übersetzung eng an den lateinischen Text an. Der Vergleich
mit dem lateinischen Text wird dadurch leicht gemacht;
eine schnelle Lektüre der deutschen Übersetzung ist jedoch
kaum möglich und würde auch dem Inhalt jener Arbeit nicht
gerecht werden. Eine ausführliche Einleitung gibt Karl-Hermann
Kandier, der letzte habilitierte Schüler von Ernst Som-
merlath. Kandier setzte spezielle Intentionen seines Lehrers mit
mehreren Arbeiten über die Abendmahlslehre fort; von daher
mußte ihn eine Schrift über die Accidentien interessieren, da
diesem philosophischen Begriff für die Abendmahlslehre des
späteren Mittelalters ganz entscheidende Bedeutung zukommt.

Das Leben Dietrichs von Freiberg läßt sich mit Behutsamkeit
nachzeichnen: Geboren um 1240 taucht er 1271 auf als „lector
Vribergensis" (= Freiberg in Sachsen); 1274 war er zum Studium
in Paris und wahrscheinlich 1280 Lesemeister in Trier; Dietrich
wurde 1286 als Autorität zitiert, Einflüsse Alberts des
Großen sind nachweisbar. 1293 wählte ihn sein Orden zum Pro-
vinzialprior der deutschen Ordensprovinz, zu der 80 Konvente
und 65 Frauenklöster gehörten. Der Dominikanerorden ist als
„der mächtigste kulturschaffende Apparat im damaligen
Deutschland" bezeichnet worden (XV). Unter seinen Vikaren
war Eckhart von Hochheim, der als „Meister Eckhart" bekannt
wurde; man darf vermuten, „daß Dietrich und Eckhart sich zu
dieser Zeit gut gekannt haben" (XVI). 1296 wurde Dietrich freigestellt
für eine Lehrtätigkeit in Paris, wo er mindestens zwei
Jahre lehrte und den Doktorgrad erlangte. Dietrich könnte 1302
mit dazu beigetragen haben, daß Meister Eckhart nach Paris
delegiert wurde. Dietrich und Eckhart nahmen 1304 an einem
Generalkapitel teil, 1310 wurde Eckhart unter Mitwirkung Dietrichs
zum neuen Provinzial gewählt, - doch wurde diese Wahl
vom Ordensgeneral aufgehoben. Dietrich ist „jedenfalls nicht
vor 1311 gestorben" (XVIII). Kandier stellt heraus, „daß kirch-
licherseits wohl Sätze des Thomas (1277), aber u.W. keine von
Dietrich verurteilt worden sind. Seine Autorität scheint in seinem
Orden unbestritten gewesen zu sein. Er hat zwar auf die
Dauer keinen Sieg über die Thomisten hinweggetragen, aber er
hat dafür gesorgt, daß Thomas selbst in seinem Orden lange
Zeit umstritten war" (XIX).

Kandlers Überblik über die Entwicklung der Abendmahlslehre
zeigt die unterschiedlichen Auffassungen in der alten Kirche,
„vor allem die des Ambrosius und des Augustinus" gingen
„unausgeglichen ins Frühmittelalter hinüber" (XXIII). Dem
kurzen Abendmahlsstreit im 9. Jh. folgten im 11. Jh. die Kämpfe
um Berengar von Tours, von dem K. sagt: „Er leugnete die
Wesensverwandlung von Brot und Wein und damit die reale
Gegenwart des Leibes und Blutes Christi" (XXV). Unter den
Gegenschriften war die des Alger von Lüttich, der um 1110 formulierte
, „daß die Brotsubstanz verwandelt wird, aber die Akzi-
dentien bleiben" (XXVII). Das Dogma von der Transsubstan-
tiation 1215 (4. Lateranense) ging von dieser philosophischen
Voraussetzung aus, die vor allem Thomas von Aquin dann weiter
ausbaute. Dagegen sahen andere Theologen, u.a. Wilhelm
von Ockham „die größte Denkschwierigkeit im Fortbestehen
der Akzidentien ohne ihre Substanz als Träger" (XXXI). Ausführlich
wird Joseph Ratzingers moderne Beurteilung der Problematik
zitiert (XXXII f.). Luther hat 1528 in seiner Auseinandersetzung
mit Zwingli Uber das Abendmahl sich auf die
Verurteilung Berengars durch Papst Nikolaus I. berufen
(XXXIV):

Dietrich von Freiberg hat mit harter Konsequenz die Verwendung
des Begriffs Akzidentien kritsch hinterfragt; dabei ließ er
die theologische Probleme völlig im Hintergrund. Kandier formuliert
: „De accidentibus ist eine philosophische Schrift, es
wird von Dietrich ausschließlich philosophisch und nicht theologisch
argumentiert. Schriftbeweise führt er nicht an" (XLVII).
Der Dominikaner Dietrich steht damit im Gegensatz zu seinem
Ordensbruder Thomas von Aquino. Es ging bei jenen Auseinandersetzungen
„fast ausschließlich um das Wie der Realpräsenz
" (XXXII). Dagegen geht die Abendmahlslehre der Reformatoren
„vom Zeugnis der Heiligen Schrift aus" (XXXIV).
Aber kurz danach stellt Kandier fest: „Auch die Reformatoren
kommen - bei allem Insistieren auf das, was die Heilige Schrift
sagt - nicht darum herum, auch philosophisch zu sprechen, um
das sakramentale Geschehen denkmöglich auszudrücken"
(XXXV). Am Schluß des Bandes bietet Kandier ein „Kommentierendes
Begriffsregister" (115-139), das eine Hilfe insbesondere
für solche Studenten sein könnte, die diesen Band im
Selbststudium erarbeiten wollen.

Rostock Gert Haendler

Schnur, Harald: Schleiermachers Hermeneutik und ihre
Vorgeschichte im 18. Jahrhundert. Studien zur Bibelauslegung
zu Hamann, Herder und F. Schlegel. Stuttgart-Weimar:
Metzler 1994. VIII, 245 S. 8°. geb. DM 58,-. ISBN 3-476-
00995-5.

Die Zielsetzung dieser Studie, einer Konstanzer phil. Diss., ist
zunächst systematisch: Sie will das „Motiv" (vgl. 3 u.ö.) der
Hermeneutik Schleiermachers herausarbeiten, d.h. bestimmen,
welche Gegebenheiten und Probleme diese Disziplin in Schl.s
Sicht notwendig machen. Um hier Klarheit zu gewinnen, unternimmt
es der Vf., Schl.s Hermeneutik im Kontext ihrer Vorgeschichte
zu interpretieren. Hierbei knüpft er kritisch an Thesen
Diltheys und Gadamers, die seit langem die Diskussion beherrschen
, an: Gadamers These, die Hermeneutik Schl.s verdanke
sich dem allgegenwärtigen Phänomen der „kategorialen Nicht-
verständlichkcit" (4) ist zu widerlegen. Diltheys Einsicht in die
zweistämmige problemgeschichtliche Herkunft von Schl.s Hermeneutik
ist zu präzisieren (vgl. 10). Beider Überbewertung der
technisch-psychologischen Interpretation zu Ungunsten der
sprachlich-grammatischen ist zu überwinden (vgl. 8).

Der erste problemgeschichtliche Strang, dem der Vf. nachgeht
, ist die neologische Bibelhermeneutik (27-58). Im Zentrum
ihres Interesses steht die „Autorintention" (52), die sie auf der
Grundlage eines „instrumentell-rhetorischen" (20 u.ö.) Sprachbegriffs
zu ermitteln trachtet, indem sie danach fragt, welche
Sachverhalte oder Vorstellungen bestimmte Worte bzw. Wortfolgen
bezeichnen. Sie konzentriert sich also ganz auf die Interaktion
des Autors mit seinem primär intendierten Leserkreis
und stellt sich die Frage nach Grund und Grenzen des eigenen
Tuns, eben des Verstehens, gar nicht. Sie will nur zur methodisch
rechenschaftsfähigen Lösung bestimmter Probleme anleiten
, die sich beim Eindringen in eine fremde Sprach-, Gedanken
- und Vorstellungswelt ergeben. Insofern läßt sich gerade
dieser Hermeneutik als Motiv die kategoriale Unverständlich-
keit attestieren.

Der zweite am ehesten als „ästhetisch-literarische" (10 u.ö.)
zu bezeichnende Strang der Vorgeschichte von Schl.s Hermeneutik
thematisiert gerade die systematische Leerstelle in der
neologischen Bibelhermeneutik, nämlich die Frage nach den
Vollzugsbedingungen des Verstehens selbst. Den Anfangspunkt
dieser problemgeschichtlichen Entwicklungsreihe lokalisiert
der Vf. in J. G. Hamann (59-96). Die „hermeneutische
Valenz" (60) von dessen Theologie besteht darin, daß er mit der
Rede von der Kondeszendenz Gottes theologisch-pneumatolo-
gisch den Ermöglichungsgrund aktualen kongenialen Verständnisses
des alten Bibeltextes angibt. Damit zugleich setzt Hamann
dem rhetorisch-instrumentellen Sprachverständnis ein
neues, subjektorientiertes „mediales" (781.) entgegen: Sprache
ist kein willkürliches Bezeichnungssystem mit „kündbare(r)
Konventionalität der Zeichenbedeutungen" (52), sondern ist
immer primär auf Verständigung des Subjekts mit sich selbst