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Ausgabe:

1995

Spalte:

441-443

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Mödritzer, Helmut

Titel/Untertitel:

Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt 1995

Rezensent:

Karrer, Martin

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 5

442

Christian Character in Luke's Gospel (London: Epworth,
1989): 83-87. Überraschend nach dem weiten Anmarsch und
der Größe des abgeschrittenen Feldes ist der abrupte Schluß
ohne Zusammenfassung entscheidender Ergebnisse oder einen
Epilog.

E.s Studie wird kaum großes Aufsehen erregen. Er präsentiert
keine revolutionäre These. Doch wenn man dies nicht erwartet
, ist sein Beitrag von bleibendem Wert. Durch gründliche
sprachliche Beobachtungen bringt er einige neue Aspekte in die
Gleichnisauslegung ein. Dank der Register hält man ein gutes
Nachschlagewerk zur Gleichnisauslegung allgemein, den
hauptsächlich vertretenen Positionen und Problemen und zum
Sämann in der Hand. Die ersten beiden Teile eigenen sich hervorragend
als Textbuch. Die sprachlichen Untersuchungen des
zweiten Teils mit ihrer ausgewogenen Berücksichtigung jüdischer
und hellenistischer Quellen, ein gutes Beispiel heutiger
katholischer Exegese in spanischer Sprache, haben bleibenden
Wert und sind in Zukunft zu berücksichtigen. Hier erinnert
Estrada an die Gruppe spanischer Philologen und Exegeten, die
hinter der Zeitschrift Filologkt Neotestamentaria stehen. An
wenigen Stellen könnten mehr synchronisch orientierte Wortstudien
zu anderen Nuancen führen. Neben diesem philologischen
Akzent könnte der theologische Gehalt des Gleichnisses
selbst noch mehr Beachtung finden.

Der Sembrador ist bemerkenswert frei von Druckfehlern. Ein
ordentliches Druckbild. Fadenheftung und die Umschlaggestaltung
(Broschur) mit Van Goghs ..Sämann" (1888) kleiden den
Inhalt, geschrieben in klarem und gut verständlichem Spanisch,
in ein attraktives Gewand. Das Preis-Leistungsverhältnis dürfte
kaum zu schlagen sein.

Aberdeen/Schottland Christoph Stenschke

Mödritzer. Helmut: Stigma und Charisma im Neuen Testament
und seiner Umwelt. Zur Soziologie des Urchristentums
. Freiburg/ Schweiz: Universitätsverlag; Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht 1994. IV, 335 S. gr. 8« = Novum
Testamentum et Orbis Antiquus, 28. Kart. sFr 96.-. ISBN 3-
7278-0938-8 und 3-525-53930-4.

Mit großem Gewicht öffnet Gerd Theißen die neutestamentliche
W issenschaft für Kategorien der Soziologie und Psychologie.
Seine Schüler, zu denen M. gehört (vorliegende Studie Diss. Heidelberg
1992/93: Korreferat durch K. Hungar). setzen das fort.
M. sucht die Theoriebildung über soziale Devianzen (negativ
bewertete Abweichungen) zu vertiefen (Kap. 1,7-36) und an
Johannes dem Täufer (Kap. 2,37-94), Jesus (Kap. 3,95-167),
Paulus (Kap. 4,168-244) und Ignatius (Kap. 5, 245-264) zu bewähren
. Summierend (Schlußkapitel 6, 265-284) stellt er die
Devianzaufnahme in der Selbststigmatisierung als urchristliches
Basismotiv heraus: der Einzelaspekt führt zu einem Gesamtbild
des Urchristentums.

Der Anspruch der Arbeit macht gespannt. Er hängt in hohem
Maße an der theoretischen Grundlage: Stigmata - griechisch
zunächst eingestochene oder eingebrannte Zeichen - beschäftigten
die Psychologie lange durch die Stigmatisationen (unter
die früher auch der einzige ntl. Beleg. Gal 6.17. gerechnet wurde
). Die Randgruppentheorie übertrug die Stigmatisierung (so
der Begriff nun) auf die soziale Brandmarkung von Personen
durch die Zuschreibung negativer Eigenschaften. Die Gesellschaft
definiert die Devianz und produziert sie damit zugleich.
Da sie das in Interaktion mit den Betroffenen tut. können diese
eine aktive Rolle übernehmen. Wenn sie die negative Bewertung
in Selbststigmatisierung auf sich ziehen und decouvrieren,
schützen sie sich und - darauf kommt e.s M. an - ändern die
stigmatisierende Gesellschaft. Ihr Stigma wird zur Quelle charismatischer
Prozesse.

Im einzelnen unterscheidet M., angeregt durch W. Lipp, kul-
pative (als Schuld bewertete) und defektive (durch das Fehlen
gesellschaftlich geforderter Merkmale bedingte) Stigmata (17)
und vier Typen der Selbststigmatisierung: die provokative
(meist Übernahme kulpativer Stigmata), asketische (primär
defektive Stigmata), defizistische (ein von M. gebildetes Wort,
das auf die Zur-Schau-Stellung defekter Verhaltensweisen abzielt
) und forensische (das Forum Gottes und das Gerichtsforum
der Menschen einander entgegensetzende); den Ausdruck
forensische Selbststigmatisierung verwendet er auch für defizistische
und forensische übergreifend (24ff).

Du die Theorie an der modernen Gesellsehaft entwiekelt ist, fragt sich, ob
die RückÜbertragung auf die Antike zur Modiiikation zwingt. M. antwortet
darauf nur knapp: Selbststigmatisierung würde in den antiken Schamkulturen
noch stärker als in Schuldkulturen wirken (bes. 21f; lassen sieh so einfache
Kulturtypen bilden?), und die Begriffe Stigma wie Charisma kenne -
den Weg zur soziologischen Begrilishildung ebnend das Neue Testament
(I ()f; zur Kigenart der ntl. Begriffe knapp). Hine Untersuchung der Stigmatisierungen
in der Antike unterläßt M. (so daß der Verweis auf die Umwelt
im Titel der Studie nur auf Johannes d.T. und Ignatius zu bezieben ist).
Damit kommt weder die Schichtung der antiken Gesellschaft genauer in den
Blick, der die entehrende Signierung bei im Ansehen geminderten Schichten
(etwa Sklaven) leichter fällt als bei anderen, noch etwa die Besonderheil
bei religiösen Einritzungen (die in Teilen der Gesellschaft - bes. jüdisch -
mißachtet wurden, bei anderen Kultkreisen aber auszeichneten: Philo,
spec.leg. I 58; nur Anklang bei Gal 6,17 S.213f). Ntl. tritt die 08b auffällig
in den Hintergrund.

Reizvoll wirkt die Verbindung der Devianz- mit der Charismatheorie
. Letztere entwickelte M. Weber als Typ der Herrschaft
in seiner verstehenden, an sinngerichtetem Handeln orientierten
Soziologie (Wirtschaft u. Gesellschaft, 51972, §10
u.ö.); erstere (Weber noch fremd) hat ihre Wurzeln in der Sozialpsychologie
. Durch M.s Kombination erhält die Devianz ein
sinnbesetztes Ziel und das Charisma eine klare Basis. Doch
überschätzt M. wohl die Tragweite. Er nützt Webers Beziehung
des Charismas auf die Erfahrung von Außeralltäglichkeit (das
Zentrum von Webers Religionssoziologie) zu wenig, um die
Erfahrung umstürzender Devianz dazu zu korrelieren (23 u.ö.),
und verzichtet darauf, den Charismabegriff für die Gestalten
des 1 Jh.s an den damaligen Quellen korrigierend zu präzisieren
(lOf, 277ff; seine Abweisung der Kritik an Webers Charismabegriff
müßte er 279 näher begründen). Die Folge ist eine gewisse
Unscharfe; etwa Gal 6,17 zielt für M. darauf, das paulini-
sche „Charisma zu erneuern (!)" (213), obwohl das mit dem
paulinischen Charismaverständnis kaum übereinstimmt. Ob aus
der Selbststigmatisierung Charisma im Sinn von Webers Herrschaftstheorie
erwächst (der in seiner Zeit noch unbelastet dafür
den „Führer"-Begriff verwendete [a.a.O. 140]), prüft M. an den
von ihm beschriebenen Personen nicht durchgängig: er hätte
sonst beim Täufer dessen Gcmeindcbildung untersuchen müssen
etc. (bemerkt 273f Anm., aber nicht verfolgt). So weist er
seine These über die Begründung von Charisma in Selbststigmatisierung
zu schmal nach.

Blicken wir mit M.s Kategorien auf die behandelten Personen
: Beim Täufer findet M. asketische Selbststigmatisierung
durch den Verkündigungsort, die Nahrung und die äußere Erscheinungsweise
(Momente, in denen allerdings nur ein Teil der
Forschung eine bewußte soziale Minderung zu erkennen bereit
ist), provokatorische Selbststigmatisierung in der Verkündigung
(wo der Rezensent sich fragt, ob sich des Täufers „Funda-
mcntalkritik" [62] nicht auch als Bußruf ohne Selbststigmatisierung
verstehen läßt), forensische Stigmatisierung schließlich
in der Taufe (gedeutet als ..eschalologisches Sakrament" [75fJ,
das anderen eine Selbststigmatisierung zumute |67|) und dem
Martyrium (das Johannes bewußt auf sich genommen haben
muß, damit das Schema erfüllt wird).

Beim irdischen Jesus stellt M. die „Besitz-, Heimat- und
Schutzlosigkeit" sowie die „Worte zu Feindesliebe und Gewaltverzicht
" als Aspekte asketischer, nun in der Mitte der Gesell-