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Ausgabe:

1995

Spalte:

395-410

Autor/Hrsg.:

Honecker, Martin

Titel/Untertitel:

Perspektiven der Wirtschaftsethik 1995

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395 Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 5 396

Martin Honecker
Perspektiven der Wirtschaftsethik

Gerhard Sauter ztHn-€(k Geburtstag am 4. Mai 1995

L. Perspektive nennt man einen Vorblick oder die Aussicht auf
die Zukunft. Wer sich freilich des eigenen Standorts versichern
will, kommt zunächst einmal nicht an einem orientierenden und
vergewissernden Rückblick vorbei. Wirtschaftsethik hat derzeit
eine, vielleicht schon wieder abnehmende, Konjunktur: Verantwortliches
Wirtschaften, Unternehmensethik, Unternehmenskultur
, ethische Ökonomie sind gefragt.

Die Anlässe zur Diskussion sind vielfältig. 1991 erschien aus
Anlaß des 100. Jahrestages der ersten Sozialenzyklika „Rerum
novarum" 1891 die Enzyklika Papst Johannes Paul II. „Centesi-
mus annus", die viel Zustimmung fand und eine lebhafte Diskussion
auslöste. Ebensoviel Resonanz fand die Denkschrift der
EKD „Gemeinwohl und Eigennutz", 1991. Das Studiendokument
des ORK „Der christliche Glaube und die heutige Weltwirtschaft
" erschien 1992. Der Zusammenbruch des politischen
Systems und der Zentralverwaltungswirtschaft des marxistischleninistischen
Sozialismus, der „zweiten Welt" 1989 wirft überdies
unerwartete neue Fragen auf. Die Disparitäten, ökonomischen
Defizienzen und sozialen Probleme der Weltwirtschaftsordnung
sind evident; das Problem einer sozialen, wirtschaftlichen
und menschlichen Entwicklung der Armutsländer, der
sogenannten Dritten Welt, liegt auf der Hand. Umweltschäden
bedrohen das Überleben der Menschheit: So stellt sich die Frage
: Sind Ökonomie und Ökologie überhaupt vereinbar? Wie
soll ein ökologisch und international verträgliches, menschlich
und sozial annehmbares Wirtschaften denn aussehen? Ist das
heutige Wirtschaftssystem (noch) zukunftsfähig? Das sind Leitfragen
heutiger Diskussion. Eine Bestandsaufnahme der wirtschaftlichen
Themen und Fragestellungen enthält das „Lexikon
der Wirtschaftsethik", 1993. Eine strikt antikapitalistische Position
präsentiert Ulrich Duchrow, „Alternativen zur kapitalistischen
Weltwirtschaft", 1994 (vgl. die Besprechung von Traugott
Jähnichen ThLZ 120, 1995, 167-169). Diese antikapitalistische
Programmatik wird im folgenden Überblick nicht diskutiert
. Um auf aktuelle Herausforderungen und Fragen Antworten
zu finden, darf man die Erfahrungen der Geschichte und
die historische Dimension nicht ausblenden. Die Besprechung
von einigen Publikationen zur Wirtschaftsethik gilt vornehmlich
dem Rückblick. Neben klassischen Themen der Wirtschaftsethik
, nämlich Arbeit, Eigentum, Einkommen, Zins und
Wucher, inzwischen auch schon Mitbestimmung, ist außerdem
das komplexe und vernetzte System Wirtschaft insgesamt zu
bedenken. Der Konsultationsprozeß für ein gemeinsames Wort
der Kirchen „Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in
Deutschland", der 1994 in Gang gekommen ist, ist ein Beleg
dafür, daß und wie wirtschaftliche Probleme und Fragestellungen
überkonfessionell zu thematisieren sind. Deswegen sind
heute katholische und evangelische Veröffentlichungen vergleichend
zu besprechen, nicht nur im Blick auf die Zukunft, sondern
auch bereits im Rückblick auf die Vergangenheit. Erfahrungen
sind auszuwerten. Eine eigene klärungsbedürftige, nach
wie vor offene Streitfrage ist die nach den protestantischen
Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft und nach dem Einfluß
der katholischen Soziallehre. Auf diese Frage wird zum Ende
nochmals zurückzukommen sein.

2. Traditionelle und klassische Themen der christlichen Ethik
waren von jeher Eigentum und Arbeit. Anton Losinger stellt in
einer wirtschaftswissenschaftlichen Abhandlung, die 1993 an
der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität
Augsburg als Dissertation angenommen wurde, Überlegungen
zum Investivlohn vor.1 Im Mittelpunkt der Arbeit stehen
zwei Abhandlungen von O. v. Nell-Breuning, „Eigentumsbildung
in Arbeiterhand", 1955 (71 ff) und „Sparen ohne
Konsumverzicht", 1957 (185 ff)- Beide Abhandlungen sind
zeitlich in der allgemeinen Diskussion um Vermögensbildung
und Eigentumsverteilung der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik
und um die Folgen der Begünstigung der Besitzer von
Sachwerten durch die Währungsreform zu verorten. Ergänzend
werden Aussagen aus weiteren der mehr als 1500 Schriften N.-
B.s herangezogen; N.-B.s Abhandlungen waren häufig situati-
onsbezogen und situationsbedingt und enthalten allein schon
deshalb häufig Wiederholungen. Die „Vorbemerkungen" führen
ganz knapp in die Problemstellung der Eigentumsdiskussion
der 50er Jahre (11 ff), die Vorgaben eines sozialen Katholizismus
im 19. Jahrhundert (16ff), Werdegang und Werk N.-B.s
(21 ff), die Eigenart seines Werkes (29ff) und die Methode der
Darstellung (33ff) ein. Die erkenntnisleitenden Prinzipien,
anhand derer der vermögenspolitische Entwurf N.-B.s entfaltet
werden soll, werden knapp skizziert (37-39). Leitend ist das
Interesse an der Schaffung „gerechter" Vermögensbedingungen
. Ansatz ist der einer normativen Gesellschaftslehre (41).
Die „Einführung" (43-70) umreißt den zentralen gesellschaftspolitischen
Stellenwert breiter Vermögensstreuung. Hintergrund
ist das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft. Bei N.-B.
wird dabei besonders die „iustitia socialis" mit ihrem „dynamischen
Wesenszug" (53) betont. In der Sozialen Marktwirtschaft
hat das Eigentum vier Funktionen:

1. Ertrags- und Einkommensfunktion (59),

2. Sicherungsfunktion (61),

3. Freiheitsfunktion (Dispositions- und Machtfunktion) (64),

4. Integrationsfunktion (68).

D.h. das Eigentum sichert den sozialen Frieden. Die Einführung
ist im Ansatz deskriptiv angelegt und diskutiert die
Sicht der Eigentumsfunktionen also nicht kritisch. Die Darlegung
des Modells im Teil I („Eigentumsbildung in Arbeiterhand
") und Teil II („Sparen ohne Konsumverzicht") ist recht
breit angelegt. Die Aussagen werden ausführlich referiert und
belegt. Manches kommt mehrfach vor. In seinem Eigentumsverständnis
greift N.-B. auf Thomas von Aquins naturrechtliche
Begründung einer privaten Eigentumsordnung zurück (87).
Von biblischen Aussagen ist in Losingers Buch nirgends die
Rede. Eigentum beruht vielmehr auf der Individual- und Sozialnatur
des Menschen und ist durch die Rechtsordnung zu schützen
. Es ist „Ordnungsmacht" (103ff). Ziel einer breiten Eigentumsstreuung
ist die „Entproletarisierung" (112ff). Dies soll
aber nicht durch eine revolutionäre Umverteilung, sondern auf
evolutionärem Weg erfolgen. Die Ursachen der strukturellen
Ungleichheit der Vermögensverteilung in der Bundesrepublik
Deutschland (126ff) werden ausführlich behandelt. Die Frage
„Wem gehört der Gewinn?" (139) greift das Thema „Profit" auf
und kommt, zutreffend, zum Ergebnis, daß es unmöglich sei,
„mit Hilfe objektiver Kriterien eine befriedigende Lösung des
Verteilungsproblems zu finden" (143, Zitat von H. Lantpert).

1 Losinger, Anton: Gerechte Vermögensverteilung. Das Modell Oswald
von Neil-Breunings. Paderborn-MUnchen-Wien-Zürich: Schöningh
1994. 335 S. gr.8° = Abhandlungen zur Sozialethik, 34. ISBN 3-506-70234-3.