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Ausgabe:

1995

Spalte:

371-373

Kategorie:

Praktische Theologie

Titel/Untertitel:

Le défi homilétique 1995

Rezensent:

Henau, Ernest

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 4

372

sinnigen Zweck erfüllt. Im Gegenzug kann und muß nämlich
eine durch metaphysische Spekulation überfrachtete Objektivierung
der Religion stattfinden: Der empiristisch reduzierte Erfahrungsbegriff
verlangt und ermöglicht nun die für alles folgende
wesentliche Rede vom „religiösen Objekt" (80) - Gott
und der Geist können jetzt doch wieder als unzweifelhafte onto-
logische Entitäten gehandelt werden (vgl. bes. 147 u. 152).
Wird freilich diese Objektivität des Religiösen und die Evidenz
von dessen wahrnehmungsmäßig erscheinender Realität für unstrittig
erklärt, dann wird das Grundthema einer jeden Religionstheorie
für absurd erklärt, bevor es sich stellen kann. - Zusammenfassend
muß also m.E. gesagt werden: Sowohl die
L.sche Wahrheitskonzeption als auch die L.sche Erfahrungskonzeption
lösen den selbstgestellten Überbietungsanspruch
nicht wirklich ein, sondern sie reformulieren in je eigener Weise
exakt diejenige Problemkonstellation, die zur Ausbildung
einer neuzeitlichen Subjektivitätstheorie und einer sich ihr anschließenden
liberalen Theologie geführt hat.

Der uneingeschränkte Wert des L.sehen Entwurfes besteht
darum m.E. weniger in der materialen Durchführung als vielmehr
in dem hinter ihm stehenden Programm. Dieses Programm
verdankt sich dem Impetus, ein zeitgemäßes Selbstverständnis
der Theologie aus der Verbindung von Religionstheorie
, Kulturtheorie und theologischer Theorie zu entwickeln -
genauer: die Funktion der Theologie aus einer Analyse individueller
Religion und deren kulturell-gesellschaftlicher Wirkmächtigkeit
zu erheben. Dieses Programm klingt in europäischen
Ohren nicht ganz unvertraut. Daß es aktuell ist, gerade
für eine interkonfessionelle und interkontinentale Theologie,
vermag L.s Ansatz zu belegen. Daß es so neu ist, wie es tut,
wird man indes nicht sagen können - allerdings auch nicht
sagen müssen. Denn jeder Neuanfang hat ja seine Geschichte.

Curau b. Lübeck Christian Albrecht

Praktische Theologie: Homiletik

Mottu, Henry, et Pierre-Andre Dettex [Ed.]: Le defi homi-
letique. L'exegese au service de la predication. Actes du 3e
cycle de theologie pratique des Facultes de theologie de Suis-
se romande 1993. Genf: Labor et Fides 1994. 321 S. 8« =
Pratiques, 13. ISBN 2-8309-0738-8.

Dieses Buch ist das Ergebnis des dritten Vorlesungszyklus in
Praktischer Theologie, welcher durch die Theologischen Fakultäten
in der romanischsprachigen Schweiz veranstaltet wurde
(Session 1993). Zentrales Thema ist die Beziehung zwischen
wissenschaftlicher Exegese und Predigtpraxis. Festgestellt
wird, daß auf diesem Gebiet einige Veränderungen zu bemerken
sind. Es spielt nämlich die Frage, wie man von der Exegese
zur Predigt gelangt, eine immer kleinere Rolle, während die
Frage, ob etwa eine Art homiletischer Exegese möglich ist,
immer bedeutender wird. Hiermit meint man eine Exegese, welche
- ohne Preisgabe ihrer wissenschaftlichen Sorgfalt - von
Anfang an die Predigt berücksichtigt. Beispielhaft für eine derartige
Vorgehensweise ist der Beitrag des Heidelberger Neute-
stamentlers Gerd Theissen, mit welchem das Buch beginnt.

Nach T. ist in den letzten 25 Jahren eine neue Betrachtungsweise
im Hinblick auf den Prozeß der Überlieferung in der
Bibel entstanden. Demzufolge wird die textliche Überlieferung
als generativer Prozeß definiert. Jede einzelne biblische Überlieferung
, welche als Grundlage einer Predigt dienen soll, muß
immer vor dem jeweiligen Hintergrund, d.h. vor der Welt des
biblischen Textes, gesehen werden. Diese Überlieferung ist

damit verbunden wie ein Wort mit der Sprache, wie jeder
mündliche Ausdruck mit einem gemeinschaftlichen linguistischen
System. Die Überlieferung eines bestimmten einzelnen
Textes aktualisiert jeweils neu die Möglichkeiten, welche im
System der religiösen Zeichen enthalten sind. Für T. sind Religionen
nämlich Zeichen-Systeme (Riten, Mythen und Legenden
), welche Gruppen von Menschen die Tatsache bewußt werden
lassen, daß ihnen die Gemeinschaft mit einer höchsten
Wirklichkeit nur einen Nutzen für ihr Leben bringen kann. Die
biblische Religion ist für ihn ein System von Zeichen, welches
im Laufe der Geschichte erschienen ist (ca. ein Jahrtausend
lang) und welches Juden und Christen veranlaßt, einen Dialog
mit dem einen und einzigen Gott anzufangen und daraus Vorteile
für ihr Leben zu ziehen. Die Predigt hat laut Theissen zum
Ziel, die Welt der biblischen Zeichen zu aktualisieren. Hierbei
unterscheidet er vier Dimensionen:

1. Zuallererst versucht die Predigt, die Kluft zwischen Gestern
und Heute zu überbrücken. Dieses ist ihre historisch-hcr-
meneutische Funktion.

2. Sie stellt auch eine günstige Gelegenheit dar, um einen
Dialog mit Gott anzuknüpfen, d.h. daß insgeheim die Hoffnung
besteht, den Abstand zwischen Gott und Mensch überwinden zu
können. Dieses verleiht ihr eine theologische Dimension.

3. Die Predigt verspricht einen Vorteil für das menschliche
Leben, d.h. eine Orientierung in Richtung guten Gelingens. Sie
gibt sich Mühe, den Abstand zwischen dem Menschen und seinem
eigenen Dasein zu verringern. Traditionell wird dieses die
existentielle Funktion der Predigt genannt.

4. Sie ist schließlich auch eine öffentliche Rede im Rahmen
einer Feier (Kult), in welcher ein Glied der Gemeinschaft im
Namen aller die Grundprinzipien des Zusammenlebens in Worte
zu fassen versucht. Damit versucht die Predigt, den Abstand
zwischen den Menschen zu verringern. Sie hat also auch eine
kommunikative Funktion.

Jede dieser vier Dimensionen wird ausführlich behandelt.

Der Zusammenhang zwischen Exegese und Predigt bei den Kirchenvätern
ist Thema des folgenden Beitrags von Jean-Michel l'offci. Iii" zeigt auf ,
daß man bei den Kirchenvätern nicht nur eine Methode und ebensowenig
die Methode des Vortrags mit homiletischen Ziel findet, sondern eine sogenannte
„hermeneutische Pneumatologie", welche in der Lage ist. die allzu
einseitigen und rationalen Kennzeichen heutiger Exegese zu korrigieren.
Die Kirchenväter lehren uns, daß der Text nicht nur eine Vergangenheit hat,
sondern - da er vom Geist getragen wird - auch eine Zukunft. An Hand
eines Beispiels wird durch den Patrologen Eric Junod tiefer auf die Art und
Weise eingegangen, wie eine wichtige Person aus der Zeit der Kirchenväter
namens Origenes die Exegese in den Dienst der Verkündigung stellt.
Genauer gesagt zeigt er auf, wie die Homilien und die ausführlicheren
Kommentare Bestandteil desselben Vorhabens zur Erschließung der Schrill
sind. „Wie predigt man über das Alte Testament" ist eine Frage, auf welche
einer der Hg., Henry Mottu, eine Antwort zu geben versucht. In seinem Beitrag
zeigt er auf, wie befruchtend die seinerzeit von H. D. Preuss entwickelte
Idee der zwischen den zwei Testamenten bestehenden „strukturellen
Analogie " gewirkt hat.

Im zweiten Teil des Buches mit der Überschrift „Pragmatik"
werden einige Erkenntnisse aus der Sicht der pragmatischen I ,in-
guistik wiedergegeben.

Pierre-Luigi Dubied zeigt auf, daß letztere eher ein Mittel zur Kontrolle
und Analyse unserer homiletischen Produktion und der ihr zugrunde liegenden
theologischen Positionen ist als eine Sammlung praktischer Rezepte.
Anne-Claude Berthoul zeigt die Bedeutung der sogenannten Konventionen
für die Kommunikation und somit auch die Predigt auf. Bernard Reymond
knüpft an die patrologischen Beiträge an und plädiert im Gefolge der Kirchenväter
für eine Exegese, die die Schrift nicht in erster Linie als einen
Text, welcher als solcher gelesen werden muß. versteht, sondern als ausgerichtet
auf mündliche Kommunikation, woraus sie ja auch entstanden ist.

Im dritten Teil mit der Bezeichnung „Systematik" gibt es nur
einen einzigen Beitrag. Darin geht es um die theologische
Argumentation im Predigtakt.

P. Gisel steht auf dem Standpunkt, die Predigt würde oft theologisch
überbeansprucht. Er hält daher ein Plädoyer, die Predigt wieder als einen
kultischen Akt zu sehen, welcher in der sakramentalen und symbolischen