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Ausgabe:

1995

Spalte:

366-368

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Irrgang, Bernhard

Titel/Untertitel:

Lehrbuch der evolutionären Erkenntnistheorie 1995

Rezensent:

Pöltner, Günther

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 4

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vergessen, minderbewertet oder unterschlagen" werden. (282)
Da sich diese Befürchtungen nicht ohne weiteres zerstreuen lassen
, wünscht sich Henning detaillierte Untersuchungen, die zeigen
, daß Adornos Auseinandersetzung mit den Klassikern der
Moderne „eklektizistisch" ist und daß sich die Auswahl, die
Adorno aus den klassischen Texten trifft, jeweils als durch psychoanalytische
Grundkategorien vermittelt erweist. H. löst Teile
dieses (in seiner Studie sonst offengelassenen) Desiderats
dort ein, wo er den Nachweis erbringt, daß Adornos Kantrezeption
- aufgrund der Freudschen Prämisse, daß „der kategorische
Imperativ das direkte Erbe des Ödipuskomplexes ist" [28],
oder, anders formuliert, daß das Sittengesetz einen bloßen
"Kompromiß aus Wunsch und Versagimg" darstellt |Kbd.| -
zwar schlüssig ist vor dem Hintergrund einer (nicht weiter pro-
hlematisierten) Freudschen Instanzenlehre, gravierende Mißdeutungen
jedoch dann offenkundig werden, wenn man diese
I heorie mit dem vergleicht, was Kant selbst schrieb. (H.s metakritische
Sichtung der Adornoschen Kantkritik folgt in vielem
Carl Brauns bahnbrechender Studie aus dem Jahr 1983 „Kritische
Theorie versus Kritizismus. Zur Kantkritik Th. W. Adornos
"). Die Henningschen Erwägungen zu Freuds und Kants
Konzeptionen der „Gewissensinstanz" sind für eine Klärung der
Frage, wie triftig Adornos freudianische Fassung des Freiheitskonzepts
insgesamt ist. besonders relevant. H. schreibt: „Nach
Freud untersucht die Instanz des Gewissens die Übereinstimmung
von besonderen Taten und Vorhaben mit bestimmten kulturellen
Normen. Im Unterschied dazu befragt das moralische
Gesetz nach Kant bestimmte Zielsetzungen darauf, ob sie verallgemeinerbar
sind und daher für die ganze Menschheit gelten
können. Ob sie mit besonderen kulturellen Normen in Einklang
stehen, ist dabei für die Bildung des moralischen Urteils peripher
[...] Somil geht Freuds Kritik an Kant ins Leere [...] ". Der
.gesellschaftspolitische Sprengstoff, der im kategorischen
Imperativ bereit liegt", so H.. ist „für Freud unsichtbar" und
auch Adorno erkennt ihn, aufgrund seines Freudianismus, „nur
halbwegs." (373)

Adornos Kantlektüre terminiert, folgen wir Henning - wegen
iles psychoanalytischen Selektionsprinzips, das sie organisiert
- in einem „verdrängten Idealismus" (372). Das macht
Adornos Freiheitskonzeption, genau betrachtet, zwar ..defizitär
". (376) Sie wird deshalb aber keineswegs uninteressant,
denn im Vergleich mit der transhistorisch „stabilen" Gestalt des
klassischen Kantischen Freiheitsbegriff hat Adornos Konzeption
den Vorzug, den Blick auf das historische Gewordensein
von Freiheit und auf die nur schwer veränderbare, prägende
Struktur der „nach dem Modell eines Tricbschicksals" gedeuteten
Weltgeschichte zu lenken (278); sie laßt jene Tendenzen zur
•.paranoiden" Selbstermächtigung genau ins Auge, die die
destruktive „Dialektik der Aufklärung" in Gang setzen und
speisen.

Defizite der Adornoschen Handlungstheorie lassen sich freilich
, so Henning, nicht nur im (externen) Rückgang auf Kant,
sondern auch in direktem Rekurs auf jene Freudsche ..Basis"
selbst aufweisen, von der ausgehend Adorno seine 'Theorie formuliert
. (284) Denn Adornos Psychoanalyse-Rezeption ist ja,
als primär kultur- und geschichtsphilosophisch dimensioniert,
überaus selektiv: Jeder positive Rekurs auf Freuds therapeutische
Behandlungstechniken (die in konkreier Weise auf die
Linderung von „Triebschicksalen" abzielen) wird bei Adorno
vermieden. Trotz dieser „Verpflanzung" Freuds (281) in die
..grande theorie" bleibt, wie II. zeigt. Adornos (um die therapeutische
Handlungsdimension verkürzter) „orthodoxefr] Freu-
dianismus" für die Untersuchung des „gesellschaftlichen Ver-
hlendungszusammenhangs" der Moderne ergiebig. Eine „spekulative
Theologie", die sich der Aufgabe rationaler Selbstexplikationen
nicht entziehen will, sieht sich u.a. deshalb zu Adorno
hingezogen, weil in seinen „bildlosen" Antizipationen des

Utopischen (vor allem in Adornos Idee der „Versöhnung")
„vorstellungshaft formuliert ist", was „rationale Theologie" begrifflich
zu entfalten sucht: „den Aufhebungsvorgang des
Gewaltverhältnisses in ein Anerkennungsverhältnis". (376)

Die meisten in den letzten Jahrzehnten vorgelegten theologischen
Auseinandersetzungen mit Adorno sind freilich ungenügend
. H. rekapituliert und kritisiert, was an einschlägigem
Schrifttum erschien (mit einer bedauerlichen Ausnahme: das
interessante - jüngst auch von J. Habermas kommentierte -
Adorno nahestehende theologischen Opus von J. B. Metz findet
sich in H.s Überblick nicht). Nahezu alle bisherigen Annäherungen
ans Adornosche Opus haben der wünschenswerten
„Allianz" zwischen einer kritischen Gesellschaftsutopie (die
Adorno selbst, ohne Zugeständnisse, vor dem Hintergrund der
psychoanalytischer Religionskritik zu formulieren suchte) und
einer ..rationalen", aufs Emanzipationskonzept verpflichteten
Theologie nur imperfekt zugearbeitet. Wurde in ihnen doch
meist Adornos Werk entweder auf so nachhaltige Weise desam-
biguiert, daß seine Schnellerledigung nahelag, oder umgekehrt
- in Verdrängung der Adornoschen Religionskritik - der Versuch
unternommen, eine kaum plausible „theologische Heimholung
" seiner Idee von „Versöhnung" vorzuschlagen. Aus gutem
Grund lehnt H. beides in seiner lesenswerten Studie ab.

Wien Ludwig Nagl

Irrgang, Bernhard: Lehrbuch der Kvolutionären Erkenntnistheorie
. Evolution. Selbstorganisation, Kognition. München
-Basel: Reinhardt 1993. 303 S. m. 5 Abb. 8« = UTB für
Wissenschaft, 1765. Kart. DM 36,80. ISBN 3-497-01297-1.

„Ein Lehrbuch wird geschrieben, wenn eine Disziplin hinreichend
abgeschlossen erscheint. Das trifft auf die traditionelle
Evolutionäre Erkenntnistheorie auch zu" (6). Aus dieser Überzeugung
heraus sollen aus „philosophischer Perspektive... die
unterschiedlichsten Strömungen und Theorien der Evolutionären
Erkenntnistheorie und Evolutionären Ethik dargestellt,
auf ihre jeweiligen Voraussetzungen befragt und im Theorievergleich
kritisch gewürdigt" werden (6). Die Anwendung naturwissenschaftlichen
Denkens auf philosophische Gebieic sei
zu begrüßen, die daraus erwachsende Begründungspflicht jedoch
„zu eliminieren", „befriedigt aus philosophischer Perspektive
nicht" (5). Gefragt sei nicht „besserwisserische Abgrenzung
der Philosophie von der Biologie", sondern „die Suche
nach Anknüpfungspunkten für eine fächerübergreifende
Theorie, in der auch die Philosophie bereit sein muß. über eine
veränderte Rolle im Disziplinengeflecht nachzudenken" (5).
Angestrebt ist eine Rekonstruktion der Evolutionären Erkenntnistheorie
„in ihren Auseinandersetzungen mit den Ansprüchen
der klassischen philosophischen Erkenntnistheorie und umgekehrt
" (20), wobei eine am methodischen Zweifel Descartes
orientierte philosophische Skepsis den Prüfstein bildet.

Das Buch umlaßt neben einer Einleitung und einem Glossar
acht Kapitel, an die jeweils Arbeitsfragen angeschlossen sind.
Das erste Kapitel referiert traditionelle Antworten zum Erkenntnisproblem
(insbes. Aristoteles, Descartes, Kant), das zweite
schildert Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie auf ihrem
Weg zur Naturalisierung des Wissens im 20. Jh. Evolutionäre
Erkenntnistheorie und Evolutionäre Ethik versuchen, das Problem
der Geltung durch Rückführung auf deren stammesgeschichtliche
Genese in den Griff zu bekommen. Da es unterschiedliche
Evolutionsmodelle gebe, eine unterschiedliche
Kausalcrklärung jedoch zu unterschiedlichen Formen der Geltung
führe, „was dem Geltungsbegriff widersprechen würde"
(81). werde es für eine philosophische Skepsis „wenig wahrscheinlich
, daß es nur ein Modell Evolutionärer Erkenntnistheo-