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Ausgabe:

1995

Spalte:

364-366

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Henning, Christian

Titel/Untertitel:

Der Faden der Ariadne 1995

Rezensent:

Nagl, Ludwig

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 4

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faßbaren philosophischen Zusammenhang sperrt (143). „Es gibt
keine Philosophie des Antlitzes!" (33) Und so stört schließlich
eben doch nicht - wie im Titel des Buches annonciert - der
Dritte, der durch sein Hinzukommen die Dualität von Ich und
Anderem mit dem Gerechtigkeitsproblem bedrangt und somit
der Verantwortung des Ich für den Anderen ein die Unmittelbarkeit
aufbrechendes Kriterium aufnötigt. Der Weg über den
Dritten ermöglicht zwar eine gesellschaftlich-politische Theorie
(84), und deshalb wird er von Levinas als eine Auflösung der
Aporie avisiert, die den Personalismus zur Philosophie hätte zurückbringen
können, aber je mehr sich Levinas auf diesem bewegt
, um so zögerlicher wird sein Schritt, und er kommt
schließlich zum Stillstand im Blick auf das Antlitz des Anderen.
Das Antlitz stört die Rückkehr in die Philosophie und richtet an
jede Theorie der Gerechtigkeit die Frage: ,Wie hältst Du es mit
dem einzelnen Menschen'?' (137). Das Antlitz offenbart schließlich
die verborgene Tyrannei des Dritten in seinem unausgesprochenen
, aber beinahe unausweichlichen Universalitätsanspruch
. Der Weg über den Dritten wäre allerdings falsch verstanden
, wenn man ihn als einen Irrweg oder gar als eine Sackgasse
ansähe, denn erst „nach Einbruch des Dritten... erfährt
das Antlitz seine gesellschaftliche Relevanz" (30) - hier liegt
die fundamentale Differenz etwa zum streng dual konzipierten
Personalismus von Martin Buber, wie sie von H. herausgearbeitet
wird (45-80, 1201). Zwar eröffnet der Dritte eine „Quelle der
Theorie", aber diese stößt sofort wieder an ihre Grenze in der
Nötigung, „zwischen Unvergleichlichen zu vergleichen" (114).
Hier kommt nun ein Element hinein, das im Rahmen der zeitgenössischen
Philosophie eher fremd als probat anmutet und in
dem sich ein m.E. deutlicher Hinweis auf die jüdische Herkunft
von Levinas zu Worte meldet. Zwischen dem Anderen und dem
Dritten verläuft gleichsam die „Spur" Gottes und verweist
damit auf die „.Intrige zu dritt' par excellence" (103). Mit
umsichtiger Vorsicht vermeidet Levinas jede begriffliche
Abbildung und somit Verbildlichung Gottes, so daß es durchaus
zwingend ist, wenn man selbst die nur andeutende Annoncierung
eines Hinweises auf den sich nur selbst nahenden Gott als
eine Störung der Möglichkeit einer systematischen Philosophie
vernimmt. .Philosophie nach der Shoah' geht nicht mehr einfach
auf, sondern sie stört ihrerseits gerade dort, wo sich das
Verstehen die Welt zurechtgelegt hat bzw. zurechtlegt.

Das zweite Ergebnis der Untersuchungen von H. stimmt den
Versuchen gegenüber zurückhaltend, die unter Berufung auf
Levinas im Kontext der Befreiungstheologie ein gesellschaftstheoretisch
fundiertes Modell für eine befreiungsphilosophische
Erfassung der komplexen Wirklichkeit entworfen haben. Auch
wenn H. den Weg über Levinas momentan für den einzig weiterführenden
hält (202), so bleibt vorläufig festzustellen, daß
die bisherige Rezeption von Levinas - exemplarisch analysiert
in den Konzeptionen von J. C. Scannone (153ff) und E. Dussel
(163ff) - im Grunde am Begriff und damit an der Wirklichkeit
des Anderen scheitert. Es liegt im Gefälle dieses unbefriedigenden
Resultats, wenn H. die eingebürgerte Rede von einer „Option
" die die Kirche etwa für die Armen oder für die Anderen
(Metz und Süss) proklamiere, im Grunde als subjektzentrierte
Denkmentalität kritisiert, die dem Grundanliegen von Levinas
gerade nicht gerecht zu werden vermag (201).

Die „kritische Studie zu gegenwärtigen Ansätzen in der Al-
teritätsdiskussion" macht deutlich, daß wir uns in der Tat erst
im Bereich der Prolegomena befinden (17). Von hier aus ruft
der Vf. mit Gutierrez den Rezipienten von Levinas zu: „Bitte
verstehen Sie mich nicht so schnell." (145) Auf der anderen
Seite ist das Buch auch seinerseits von einer verständlichen Ungeduld
geprägt, in der nun der Vf. immer wieder .Optionen',
andeutet, wie Levinas dieses oder jenes Problem etwas plausibler
oder zumindest intellektuell verträglicher hätte lösen können
- bisweilen klingt es ein wenig nach der höheren Melodie

des besserwissenden Analytikers. So zieht sich mehr oder weniger
explizit der Vorwurf durch das Buch, daß der philosophische
Abbruch bei Levinas immer wieder zu früh erfolge; auf
diese Weise verschenke er viele ungenutzte Möglichkeiten.
Doch dieses Drängen hat dem Vf. nicht den Blick für viele differenzierte
und weiterführende Detailbeobachtungen und
Interpretationsfallen getrübt, so daß die zwischengekommene
„Schulmeisterei" allemal durch den sachlichen Gewinn dieser
Analysen überragt wird.

Paderborn Michael Weinrich

Henning, Christian: Der Faden der Ariadne. Eine theologische
Studie zu Adorno. Frankfurt/M.-Bcrlin-Bern-New York-Paris-
Wien: Lang 1993. 469 S. 8° = Beiträge zur rationalen Theologie
, 2. Kart. DM 108,-. ISBN 3-631-46040-6.

Jeder, der sich Adornos Texten zu nähern sucht, steht vor der
Frage, wie diese zu lesen seien. Denn Adornos Leitgedanke, die
Kritik an der „signifikativen Sprache" und am „identifizierenden
Denken" (A. Wellmer), findet radikalen Ausdruck auch in
seinem Stil. Ganz offenkundig ist Adornos Philosophie nicht
dem (wie Adorno meint „falschen") cartesianischen Ideal eines
methodisch gesicherten, auf festen Fundamenten aufbauenden
Wissens verpflichtet. Jeder Adorno-Interpret, der nicht bloß
feuilletonistischer Adorno-Imitator sein will, steht vor dem Problem
, sein Denken - in riskanten und oft wohl auch simplifizierenden
Zugriffen - erst (re-)„konstruicren" zu müssen.

H. unternimmt in seiner umfänglichen Studie - in der das
ganze Adornosche Opus gesichtet wird - den Versuch, eine solche
„Konstruktion" im Rekurs auf den (manifesten und latenten
) Freudinanismus Adornos vorzunehmen. Der Autor vermittelt
dabei interessante Einsichten in die Leistungen und Grenzen
der Adornoschen Freihcits-, Kultur- und Geschichtstheorie
(wobei er u.a. zeigt, auf welche Weise Adorno seine Konzeptionen
von Freiheit und Unfreiheit im Gegenzug zur Kantischen
Theorie „praktischer Vernunft" entwickelt). Das Motiv, das H.
die „theologische Auseinandersetzung mit der Philosophie
Adornos" [Unterstreichung L.N.] suchen läßt, drückt er folgendermaßen
aus: „Wenn einer der führenden Theoretiker der Kritischen
Theorie die Freiheit des Individuums zu einem Relikt
der Vergangenheit erklärt... dann sollen gerade Theologie und
kirchliche Verkündigung, die dem Gläubigen stets christliche
Freiheit zusprechen, [...] sich solchen Theoremen stellen und sie
auf ihre Triftigkeit prüfen." (15)

Adorno ist für Henning - von der (zurückgezogenen ersten)
Habilitationsschrift „Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen
Seelenlehre" (1927) an bis hin zur postum erschienenen
„Ästhetischen Theorie" - immer (d.h. auch dort, wo er
dies zu „verdecken" sucht) „orthodoxer Freudianer" (281). Diese
interpretatorische „Konstruktion" ist durch ihre - oft gut ausgewiesene
- Vereindeutigungsleistung gewinnbringend und eröffnet
neue Blicke auch auf so schwer penetrierbare Schrillen
wie Adornos Kierkegaard-Studie, die Henning als einen Feuer-
bachianisch und psychoanalytisch strukturierten, religionskritischen
Angriff auf die neo-irrationalistische Kategorie der „Existenz
" - und damit, für den historisch-genetischen Entstehungskontext
erhellend, als eine Art von anti-Heideggerschem Traktat
liest. Der interpretatorische Gewinn, den Hennings Zugang
erbringt, ist allerdings, so kann es scheinen, um einen hohen
Preis erkauft. H. fragt sich selbst etwa in der Mitte seines Buches
, ob seine Leitüberzeugung, in Freuds Theorie „den Schlüssel
zu Adornos Denken gefunden zu haben", nicht letzlich dazu
führt, daß jene Einflüsse, „die von den anderen großen Denkern
wie Kant, Hegel, Kierkegaard und nicht zuletzt auch von Marx
[...] auf Adorno und seine Philosophie ausgegangen sind [...]