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Ausgabe:

1995

Spalte:

332-334

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Westermann, Claus

Titel/Untertitel:

Die Geschichtsbücher des Alten Testaments 1995

Rezensent:

Dietrich, Walter

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 4

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Zur Frage, warum nach 22,3 ein Dieb nur doppelten Ersatz leisten soll,
wenn das Diebesgut noch in seinen Händen gefunden wird, weist der Vf.
zwar R. Westbrooks Deutung auf den unwissenden Aufkäufer zurück, ohne
eine eigene Position zu entwickeln. Er sieht in dieser Inkonsistenz eher
einen Hinweis dafür, daß es sich nicht um Rechtssätze im strikten Sinne,
sondern um moralische Kommentierungen des Diebstahlsverbots des Dekalogs
handele. Das gelte nun auch für 22,6-12. Zwar führt der Vf. die zahlreichen
Rechtsmotive in diesem Abschnitt auf, doch: "The purpose of this
regulation is essentially moral: to bring about harmony among Israelite Citizens
" (153). Ist das nicht primäre Aufgabe auch des Rechts?

Ein letzter Abschnitt in 22,17-23,19 behandelt Kultvorschriften
und die soziale Gerechtigkeit. Der Abschnitt ordne alternierend
die Regelungen zum Kult (22,17-19.28-30; 23,10-19) und
zur sozialen Gerechtigkeit (22,20-27; 23,1-9) zusammen. Offen
bleibt, wie sich zu dieser Strukturierung die Beobachtung verhält
, 22,17-19 bilde mit 21,12-17 einen Rahmen um 21,18-22,16.
In 22,20-26 drängt sich V. 21 (plur.) zwischen V. 20a.22 (sing.).
Der Suffixbezug und die sing. Konstruktion setzen V. 22 von V.
21 ab und verbinden ihn mit V. 2()aa. Wie V. 21 sich zwischen V.
20* und V. 22 schiebt, so V. 22 zwischen V. 21 und V. 23, die,
wie der Stichwortzusammenhang zeigt, zusammengehören. Die
bisherige Forschung hat hier deutliche Signale einer Textfortschreibung
gesehen. Der Vf. will den Sing.-Plural-Wechsel als
rhetorisches Phänomen behandelt wissen. Wenn der Einzelne
eine der Übeltaten begehe, bringe er ganz Israel in Gefahr. Diese
Erklärung greift nun aber keineswegs für das Nebeneinander von
V. 21 und V. 22 und den Rückgriff in V. 22 Coto) auf V. 20. Die
Problematik wiederholt sich in 22,30.

Die Mispatim (20,1) enden, wie sie mit dem Altargesetz
begonnen haben: mit Kultbestimmungen in 23,10-19. Das Verhältnis
des Festkalenders in 23,14-19 zu der Parallelüberlieferung
in Ex 34 bleibt ebenso unbeantwortet wie eine Analyse
von 23,20-33 fehlt.

Der Vf. hat sich ein hohes Ziel gesetzt, wenn er die bisherige
diachrone Arbeit am Bundesbuch zugunsten einer synchronen
Auslegung überholen will. Die Berechtigung der Fragestellung
steht nicht zur Disposition, wenn auch die Alternative nicht weiterführen
dürfte. Um so erstaunlicher aber ist es, daß der Vf. darauf
verzichtet, sich ausführlicher mit den einschlägigen neueren
Arbeiten der letzten zwanzig Jahre zum Bundesbuch auseinanderzusetzen
. Die Dissertation von J. Halbe (FRLANT 114, 1975)
wird sporadisch zitiert, in den entscheidenden Beobachtungen
aber übergangen. Eine Auseinandersetzung mit der Dissertation
von L. Schwienhorst-Schönberger (BZAW 188, 1990), die der
Vf. im Vorwort pauschal als „eine altmodische quellenkritische
Studie" kennzeichnet und W. Brucggemann (JBL III, 1992,
128) als "preoccupied with speculative issues of development",
fehlt, wie der Vf. einräumt. Die Arbeit des Rez. (StudBibl 3.
1988) kennt der Vf. nur aus Zitaten bei Schwienhorst-Schönberger
(cf. S. 76f. Anm. 3; 106). Die Dissertation von Y. Osumi
(OBO 105, 1991) wird überhaupt nicht erwähnt. Hätte der Vf.
die neuere Literatur zum Thema zur Kenntnis genommen, so hätte
es ihn vor der falschen Vorstellung bewahren können, die
diachrone Perspektiven einbeziehende Forschung habe keinen
Zugang zur Auslegung des gegebenen masoretischen Textes. So
bleibt der Vf. einem älteren Forschungsstand verhaftet, der seinen
Ausgangspunkt bei Unebenheiten und Spannungen des Textes
nahm, um sie durch diachrone Arbeitsschritte zu erklären.
Der Vf. ist darauf fixiert und versucht Argumente dagegen beizubringen
, die in der Regel um nichts weniger hypothetisch sind als
die der älteren Literarkritiker. Die entscheidende Aufgabe, die
Strukturen der Textebene zu erheben, bleibt so auf der Strecke,
so daß der Vf. den Text nur inhaltlich gliedert. Die Strukturierungen
aber des gegebenen Textes des Bundesbuches eröffnen viel
eher als Brüche und Spannungen nun auch den Weg zur Erkenntnis
seiner Vorgeschichte. Der Vf. bleibt schließlich die Antwort
schuldig auf die Frage, auf wen das Bundesbuch im Rahmen der
Sinaiperikope zurückgehe. Er braucht für diesen Autor wiederholt
den Begriff "final redactor". Noch in diesem Begriff hält der
Vf. wohl unbeabsichtigt die Perspektive einer Vorgeschichte des
Bundesbuches in der Sinaiperikope fest.

Die Monographie wird mit Bibliographie, Stellen- und Autorenregister
abgeschlossen.

Mainz Eckart Otto

Westermann, Claus: Die Geschichtsbücher des Alten Testaments
. Gab es ein deuteronomistisches Geschichtswerk?
Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1994. 150 S. 8*' =
Theologische Bücher, 87. Kart. DM 38,-. ISBN 3-579-
01810-8.

Claus Westermann zieht in dem hier vorgelegten Alterswerk
eine Grundthese in Zweifel, auf der und an der Generationen
jüngerer Forscher aufgebaut und weitergebaut haben. Die Frage
im Untertitel seines Buches erheischt und erfährt eine negative
Antwort: Es gab kein deuteronomistisches Geschichtswerk, wie
Martin Noth es vor einem guten halben Jh. in seinen „Übcrliefe-
rungsgeschichtlichen Studien" beschrieben hat. Schon seinerzeit
erfuhr diese These Widerspruch. Einen ihrer schärfsten Kritiker
, Georg Fohrer, zitiert W. und fügt den merkwürdigen Hinweis
bei, er habe dessen Ausführungen „erst 1979" wahrgenommen
, „als meine Untersuchung im wesentlichen abgeschlossen
war" (30). Was mag daraus zu entnehmen sein?

Gleich im „Vorwort" (lOf) erfahren wir die Hauptgründe, aus
denen W. Noths Hypothese ablehnt: Die Sprache innerhalb der
für das Geschichtswerk reklamierten Bücher sei nicht durchgängig
und einheitlich, der Einsatz der Darstellung erst bei der
Landnahme sei nicht glaubhaft, die einzelnen Abschnitte des
vermeintlichen Werkes unterschieden sich markant voneinander
, die vorhandenen Verknüpfungen seien allesamt rein literarisch
und sekundär, der Einfluß der mündlichen Tradition auf
die biblische Geschichtsschreibung werde nicht gebührend berücksichtigt
.

Diese Argumente treffen Not kaum. Er konzentrierte sich
bewußt auf die Schlußredaktion der biblischen Geschichtsbücher
. Es war ihm klar, daß diese erst die übergreifenden
Gesichtspunkte in das Gesamtwerk einbrachte. Zugleich betonte
er, sie habe mancherlei vorgegebenes Überlieferungsgut zu
einem „Traditionswerk" zusammengefügt; daher rührten die
vielerlei Unebenheiten, Spannungen und Differenzen. Diese
Sicht der Dinge war damals sehr modern, fast avantgardistisch.
Noth nahm die Schlußredaktion ernst, suchte ihre Arbeitsweise
zu erfassen und ihre Beweggründe zu verstehen. Er maß ihr den
Rang wirklicher, freilich bestimmten historischen und theologischen
Traditionen Israels verpflichteter Geschichtsschreibung
bei. W. dagegen fordert „von einem Geschichtswerk, jedenfalls
in erster Linie, die Darstellung der Geschichte..., so wie sie verlaufen
ist" (28). Daran aber fehle es, wenn z.B. die Könige
schematisch in gottlose und gottwohlgefällige aufgeteilt würden
: „Das ist keine objektive Beurteilung, das ist auch keine
Geschichtsschreibung" (72). Dieses Urteil mutet hart an, mischen
sich doch in den Porträts mancher Könige sehr wohl
Licht und Schatten. Vor allem ist der Maßstab der Objektivität
ja nicht mehr über alle Zweifel erhaben. Kaum viel berechtigter
ist der Tadel an die Redaktoren, sie hätten in ihrem Streben
nach festen Deuteschemata „das Folgen von Strafen auf Schuld
aus dem persönlichen Bereich naiv auf die Geschichte der Völker
" übertragen und „das politische Geschehen... noch nicht in
seiner Eigenart erkannt" (I I 1). Ist denn die Annahme eines Tat-
Tatfolge-Zusammenhangs im persönlichen Bereich weniger
problematisch als im politischen, und waren auch die Propheten
naiv, als sie ihn aufs Geschick der Völker, namentlich Israels,
anwendeten?