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Ausgabe:

1995

Spalte:

299-312

Autor/Hrsg.:

Raschzok, Klaus

Titel/Untertitel:

Ein theologisches Programm zur Praxis der Kirche 1995

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299

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 4

300

Klaus Raschzok
Ein theologisches Programm zur Praxis der Kirche.

Die Bedeutung des Werkes Eduard Thurneysens für eine gegenwärtig zu verantwortende Praktische Theologie

1. Zum Gesamtverständnis der Praktischen Theologie bei
Eduard Thurneysen

Eduard Thurneysens Arbeiten1 - so lautet meine These -
sind als Beitrag der Dialektischen Theologie zur „Praxis der
Kirche" und nicht zur „Praktischen Theologie" im empirischen
Sinne zu verstehen.2 Die Nichtbeachtung dieses Aspektes hat
zu falschen Frontstellungen geführt.-^ Daß Thurneysen rezeptionsgeschichtlich
in der Regel als Vertreter der akademischen
Disziplin „Praktische Theologie" verstanden wurde, liegt sicher
auch mit an der durch Karl Barth und dessen akademischen
Werdegang bestimmten Wahrnehmungsperspektive für das
Werk Thurneysens. Es handelt sich beim gesamten Werk um
eine theologische Programmschrift zur Praxis der Kirche, deren
methodische Hinweise nicht den Charakter handlungswissenschaftlicher
Aussagen besitzen, sondern der traditionellen Gattung
der „Pastoralklugheit" zuzuordnen sind und bis hinein in
die sprachliche Gestaltung an die Amts-Instruktion anklingen.4

Eine angemessene Würdigung des Praxisverständnisses
Thurneysens hat zu berücksichtigen, daß praktisch für Thurneysen
etwas ist, „das ins Leben eingreift" und „bei dem der ganze
Mensch beteiligt ist".-'' Wenn Thurneysen von „Praktischer
Theologie" spricht, meint er damit zumindest vor der Übernahme
des Baseler Lehrauftrages 1930 nicht in erster Linie die akademische
Diziplin, sondern die Praxis der Kirche. Thurneysen
ist somit im gegenwärtigen Sinne kein „Praktischer Theologe",
sondern bleibt ein Gemeindepfarrer, der seine Praxis in erster
Linie theologisch und weniger methodisch reflektiert hat. Zur
Beschreibung seiner Praxis bedient sich Thurneysen der traditionellen
Formen der Mitteilung von Amtswissen, durchdringt
diese aber theologisch und nicht methodisch. Seine spezifische
Leistung besteht somit in der Verbindung der theologischen
Programmschrift zur Praxis der Kirche mit Elementen der traditionellen
Pastoralklugheit, die er zur Veranschaulichung des
theologischen Programmes heranzieht." In dieser nachgeordneten
Funktion der Methodik liegen Starke wie Schwäche seines
praktisch-theologischen Konzeptes begründet.7

1 Die Bibliografie umfaßt insgesamt 480 Titel: M. Thurneysen. Bibliographie
Eduard Thurneysen, Nr. 1-326 in: Gottesdienst - Menschendienst.
Eduard Thurneysen zum 70.Geburtstag am 1 O.Juli 1958, Zollikon 1958, 333-
350; Nr. 327-434 in: Wort und Gemeinde. Probleme und Aufgaben der Praktischen
Theologie, Zürich 1968, 521-526; Nr. 435-479 in: R. Bohren. Prophetie
und Seelsorge. Eduard Thurneysen. Neukirchen-Vluyn 1982. 266-268.

2 Eduard Thurneysen steht hier in einer Reihe mit Hans Asmussen und Helmut
Tacke, die beide aus dem Gemeindepfarramt heraus eine Fülle von Veröffentlichungen
zur Praxis der Kirche vorgelegt haben, aber wie Thurneysen
nicht als akademische Vertreter der Disziplin Praktische Theologie verstanden
werden dürfen. Auf die Bedeutung dieser denkerischen Initiative von Pfarrern
für die akademische Praktische Theologie hat R. Bohren in seinem Nachruf
auf Helmut Tacke hingewiesen: R.Bohren, In memoriam Helmut Tacke.
Begegnung mit einem Seelsorger, in: H. Tacke. Mit den Müden zur rechten
Zeit zu reden. Beiträge zu einer bibelorientierten Seelsorge. Neukirchen-
Vluyn 1989, 11-23, 21 f. Zu H. Asmussen vgl. E. Konukiewitz, Hans Asmussen
. Ein lutherischer Theologe im Kirchenkampf (Die Lutherische Kirche.
Geschichte u. Gestalten 6), Gütersloh 2.Aufl. 1985 u. G. Zenk. Evangelisch in
Katholizität. Ökumenische Impulse aus Dienst und Werk Hans Asmussens
(EHS XXIII, 99), Frankfurt a.M. 1977 sowie die ausführliche Darlegung von
Asmussens praktisch-theologischem Konzept in der Einleitung seiner Seelsorgelehre
: H. Asmussen, Die Seelsorge. Eine praktisches Handbuch über Seelsorge
und Seelenführung, München 1933. X-XIV. Zu H. Tacke: H. Tacke,
Glaubenshilfe als Lebenshilfe. Probleme und Chancen heutiger Seelsorge,
Neukirchen-Vluyn 1975 u. ders.. Mit den Müden zur rechten Zeit zu reden.
Beitrage zu einer bibelorientierten Seelsorge. Neukirchen-Vluyn 1989.

Eine grundsätzliche Besinnung stellt für Thurneysen das einzig
Praktische dar, das sich geben läßt.8 Deshalb besitzt die
Mehrzahl seiner Veröllentlichungen den Charakter einer dog-
matisch-verdichteten Sprache, die erst wieder in lebendige Prozesse
zu revitalisieren und als Verdichtung eines lebendigen
Geschehens zu verstehen ist, nicht als dogmatische Aussage.
Die dogmatisch verdichtete Sprache Thurneysens sowohl in seinen
Predigten wie in seinen Veröffentlichungen zur Praxis der
Kirche stellt eine Notation mehrdimensionaler personaler geistlicher
Prozesse dar, die nicht auf die Mitteilung von Inhalten

' A. Grözinger. Offenbarung und Praxis. Zum schwierigen praktisch-theologischen
Erbe der Dialektischen Theologie, in: ZThK Beiheft 6.1986, 176-
193, 176t".: „Die Dialektische Theologie ist der Angstgegner der Praktischen
Theologie geblieben - auch heute noch. Und der Abstand der Zeiten scheint
die Fronten eher noch zu verhärten als in neue, fruchtbare Fragestellungen
hineinzuführen. Solche Fragestellungen sind aber dringend notwendig, sollen
nicht ständig alte Feindbilder neu aufpoliert und Konfrontationen perpetuiert
werden, die ihre theologische Berechtigung und ihre Verankerung in der konkreten
kirchlich-gesellschaftlichen Lebenswelt längst schon verloren haben."
- Auffällig ist die geringe Beschäftigung der Praktischen Theologie mitThurn-
eysens Werk außerhalb von Standardwerken und Lehrbüchern. Hinzuweisen
ist neben R. Bohrens grundlegender Biografie ..Prophetie und Seelsorge" auf:
R. Bohren, Das Wort Gottes und die Kirche, in: EVTh 36.1976, 312-324;
ders., Trost für Berufströster, in: Eduard Thurneysen. In seinen Händen. Grabreden
. Ein Trostbuch. Neukirchen-Vluyn 1978. 155-167: W. Gern, Aulbrüche
zu einer neuen Zeit. Zu den frühen Predigten von Eduard Thurneysen 1913-
1930, in: ders. [Hg.], Eduard Thurneysen: Die neue Zeit. Predigten 1913-
1930, Neukirchen-Vluyn 1982, 256-273; R. Landau, „Bruchlinien" - Beobachtungen
zum Autbruch einer Theologie. Erinnerungen an die Theologie
Eduard Thurneysens. in: EvTh 45.1985,139-158; W. Kurz, Der Bruch im seelsorgerlichen
Gespräch. Zum Sinn einer verfemten poimenischen Kategorie,
in: PTh 74.1985, 436-451; G. Girardet, Metodi e prospettive della cura pasto-
rale nella societä contemporanea, in: Protestantesimo 41.1986. 1-21; A. Grözinger
, „Das lebendige Wort Gottes selbst". Zum Verständnis der Predigt bei
Eduard Thurneysen, in: ZGP 6.1988. H. 4. 15-18; ders., „Steile, grifflose
Wände". Zur Genese und zur Aktualität der praktisch-theologischen Theorie
Eduard Thurneysens, in: PTh 77.1988, 427-44; K. Winkler, Eduard Thurneysen
und die Folgen für die Seelsorge, in: PTh 77.1988, 444-456; G. Vischer,
Nochmals: Seelsorge als Verkündigung, in: PTh 77.1988, 456-462; R. Bohren
, Macht und Ohnmacht der Seelsorge, in: PTh 77.1988. 463-472; H.Tacke,
Fragen und Dank an Eduard Thurneysen, in: ders.. Mil den Müden zur rechten
Zeit zu reden, 193-202.

* „Vergiß nie, wenn du den Kranken vor dir siehst, daß er als ein von Gottes
Barmherzigkeit Umfangener zu sehen ist. Deine Seelsorge hat von vornherein
und bedingungslos und in allen Fallen zu geschehen in großem Erbarmen
." (E. Thurneysen, Seelsorge im Vollzug, Zürich 1968, 197) „Das
Gespräch mit dem Kranken werde in großer Natürlichkeit geführt. Als erstes
wird man sich erkundigen nach seinem Befinden und der Art seiner Krankheit
..." (ebd., 202) - Zum Verhältnis von „Pastorallheologie" und „Praktischer
Theologie" vgl. G. Krause, Hat die Praktische Theologie wirklich die Konkurrenz
der Pastoraltheologie überwunden'.', in: ThLZ 95.1970, 721-732; W.
Steck, Art. „Pastoraltheologie 1 .Evangelisch", in: EKL 3.Aufl. 3(1992), 1075-
1077 sowie Ch. Palmer, Art. "Pastoraltheologie", in: RE 11(1859). 175-190.

^ E. Thurneysen, Lebendige Gemeinde und Bekenntnis (TEh 21). München
1935,4.

fi Auch für den Unterricht veröffentlicht Thurneysen ein theologisches Programm
und keine methodische Anleitung. Die didaktische Reflexion vollzieht
sich in der Aufstellung dieses Programms: E. Thurneysen. Konfirmandenun-
terricht. Ein Kapitel aus der praktischen Theologie (1927), in: ders.. Das Wort
Gottes und die Kirche. Aufsätze und Vorträge, München 1971. I 17-139.

7 Vgl. A. Grözinger. „Steile, grifflose Wände", 441: „Entgegen anders lautenden
Behauptungen vollzieht sich die Genese der Praktischen Theologie
Thurneysens gerade nicht als steile, lebensferne Dogmatik, sondern als die
theologische Reflexion konkreter Erfahrungen. Allerdings - und daran hat
Thurneysen nie einen Zweifel gelassen - sind sie theologisch zu reflektieren."

s Konfirmandenunterricht, 162.