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Ausgabe:

1995

Spalte:

276-277

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Heyl, Andreas von

Titel/Untertitel:

Praktische Theologie und Kritische Theorie 1995

Rezensent:

Lämmermann, Godwin

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 3

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mehr einander ergänzend das Thema der Kirche als „commu-
nio'' von verschiedenen Zugängen her und auf unterschiedliche
Aspekte hin: Die an Pfingsten als „communio" manifestierte
Kirche, die Kirche Gottes und der Leib Christi als „communio",
die Kirche als ..Geheimnis" und ihre Beziehung zum Reich Gottes
, die Kirche Gottes und das atl. Volk Gottes, die Kirche als
Empfängerin und Vermittlerin des Wortes Gottes, die Kirche als
„Sakrament". Dies und vieles mehr wird immer wieder auf die
Grundthese des Buches bezogen, daß die Kirche Gottes eine
Kirche der Ortskirchen, eine „communion of communions" ist.

Das dritte Kapitel beschreibt den „Dienst der communio" als
Dienst in der „communio" und für sie durch die Laien und
Ordinierten wie auch als versöhnenden und evangelisierendcn
Dienst, den die Kirche Gottes als „Dienerin des Heils" innerhalb
der Menschheit ausübt. Im vierten Kapitel geht es schließlich
um „die sichtbare communio der Kirchen". Die hier noch
einmal akzentuierte Besinnung über die Einheit der Kirche
durchzieht als ein Leitmotiv das ganze Buch, wird aber in diesem
Kapitel auf die Funktion und Verantwortung des Bischofs
von Rom als „Diener der Diener Gottes" zugespitzt,

T.s Methode ist nicht, wie bereits angedeutet, diejenige einer
systematischen Entfaltung des Themas. Vielmehr nähert er sich
von verschiedenen Seiten her dem jeweiligen Aspekt seines Themas
und umschreibt ihn in immer neuen Perspektiven. Daraus
ergeben sich manche Wiederholungen, aber auch faszinierende
Einsichten. Indem er bereits Gesagtes von einer neuen Seite her
beleuchtet und es dann nach verschiedenen Seiten hin weiter auslegt
, möchte T. wohl deutlich machen, daß die Kirche eine
geschichtliche, dynamische und komplexe Wirklichkeit ist, die
sich nicht in einer systematischen Darstellung einfangen läßt,
sondern nur immer wieder umkreisend beschrieben werden kann.

Im vollen Wissen um die nicht allzu breite biblische Grundlage
des Konzepts der „koinonia/communio" macht T. dieses Konzept
dennoch zum verbindenden Bezugspunkt der ekklesiologi-
schen Einzelaspekte: „communio" der Kirche mit dem trinitarischen
Gott, der selbst eine ewige „communio" der drei Personen
ist; „communio" als Interpretation und Manifestierung von Heil,
Einheit und Versöhnung; „communio" als Wirkraum und Ziel
der Sakramente und Ämter; „communio" der Kirche mit der
Menschheit in Gemeinschaft mit Christus, der „in communion"
mit dem Elend und der Not der Menschen ist; „communio" als
Interkommunion und Interzelebration; eschatologische „communio
" mit dem Gottesreich bereits heute in der Eucharistie; „communio
" des neuen Bundes mit Israel; „communio" im Glauben
und unter den Glaubenden; „communio" der Geistesgaben - und
andere Aspekte mehr, auf die T. seine These gründet, daß „nichts
in der Kirche besteht, was nicht .communion' ist" (168).

Im Zusammenhang mit diesen vielfältigen Variationen des
Themas „communio" und einem noch hinzukommenden Reichtum
an anderen ekklesiologischen Vorstellungen konzentriert
T. seine Überlegungen immer wieder auf den Grundgedanken
einer wesentlich eucharistisch und bischöflich konzipierten
„communio" der Ortskirche.

Diese ist in einer „communio" mit den anderen Ortskirchen verbunden
durch die eine Eucharistie und die Bewahrung und wechselseitige Anerkennung
der „communio" im apostolischen Glauben. Der Ortsbischof dient
dem Lehen und der Bewahrung der örtlichen „communio". das Bisehofs-
kollegium dient der ..communio" aller Ortskirchen untereinander, und der
Bischof von Rom übt ein Bischofsamt mit der besonderen Verantwortung
für den Dienst an der „communio" der Gesamtkirche aus. Die Gesamtkirche
ist so in jeder Ortskirche, und die Ortskirehen sind in der Gesamtkirche:
Kirche der Kirchen.

Die wesentlichen Grundlagen für T.s Arbeit sind: (I) eine
intensive und breitangelegte biblische Argumentation, für die
eine Fülle an exegetischer Literatur herangezogen wird; (2) eine
ähnliche starke Einbeziehung der palristischen Literatur und der
Geschichte der alten Kirche als Weilerführung und Entfaltung
(Tradition) des biblischen Zeugnisses; (3) die Kirchen- und
Theologiegeschichte bis zur Gegenwart (weniger eingehend).

wobei dann die Texte des 2. Vat. Konzils noch einmal einen
breiten Raum einnehmen.

T. bezieht sich auf Literatur in deutscher, englischer, französischer, italienischer
und spanischer Sprache. Die englische Übersetzung des Buches ist
nicht immer sehr glücklich ("of a God no longer limited to hanging over
history". "we throw this look into the eeumenieal debate" und viele andere
Stellen), auch ist die Übersetzung manchmal ungenau (so wird z.B. die Kommission
für "Faltl) and Order" mit "Faith and Constitution" wiedergegeben).

T. hat ein an Gedanken unendlich reiches Buch geschrieben,
das gleichzeitig sehr römisch-katholisch (aber im offenen Geist
des 2. Vat. Konzils), engagiert ökumenisch („communio" auch
als Schlüsselkonzept für die Einigung der Kirchen) und nachdrücklich
auf den Dienst der Kirche an der Menschheit hin ausgerichtet
ist.

Genf Günther Gaßmann

Praktische Theologie: Allgemeines

Heyl, Andreas von: Praktische Theologie und Kritische
Theorie. Impulse für eine praktisch-theologische Theoriebildung
. Stuttgart-Berlin-Köln-Kohlhammer 1994. 288 S. gr.8<>
= Praktische Theologie heute, 15. Kart. DM 49,80. ISBN 3-
17-012690-3.

Die Neuendettelsauer Dissertation möchte ein Beitrag zur wis-
senschaftstheoretischen Grundlegung der Praktischen Theologie
(PT) liefern, um diese für die „auf die Menschheit zukommenden
gigantischen Probleme" (267) zu wappnen. Die Lage
erscheint apokalyptisch und zugleich hoffnungslos. „Gegenwärtig
hat sich die Menschheit in eine Lage am Rande des
Abgrundes hineinmanövriert. Nur wenige Schritte trennen sie
noch von der endgültigen Zerstörung der ethischen, sozialen
und natürlichen Lebensgrundlagen... Kaum jemals zuvor in der
Geschichte haben sich derart viele Menschen heimat-, bin-
dungs- und orientierungslos gefühlt wie in unserem Jahrhundert
. Unzählige erleben sich namenlos hin- und hergeworfen"
(250). Zur „Kursbestimmung im unruhigen Meer des gegenwärtigen
Epochenwandels" (16) wendet sich der Autor der Kritischen
Theorie (Adorno. Horkheimer, Habermas) als dem adäquaten
Ansatz, für eine zutreffende Zeitdiagnose zu, weil bereits
die Denker der Frankfurter Schule die Gegenwartskrise als eine
Folge des neuzeitlichen Paradigmas interpretiert hätten. In nicht
vereinnahmender und kritischer Rezeption der Sozialphiloso-
phie Adornos und Horkheimers wird der Frage nachgegangen,
ob die Praktische Theologie als Kritische Theorie zu entwerfen
sei. Das Ergebnis lautet: „Ein Konzeption der Praktischen
Theologie als .Kritische Theorie' läßt sich... nicht halten." (232)
Rückblickend auf den diesem Zitat vorausgehenden Argumentationsgang
hätte der Leser nun gerne gewußt, weshalb dieses Urteil zwingend sei. Stattdessen
wird ihm vielerlei Sonstiges geboten: eine erneute, zumeist aus
Sekundärliteratur herausgearbeitete Diskussion der Begriffe „Paradigma"
(1411) und „Postmoderne" (I33ff) sowie - wieder einmal - ein Referat über
die Geschichte der Frankfurter Schule. Dies Ganze ist eingebettet in eine uni-
versalgeschichtlich einherschreitende Skizzierung. die nicht nur von der Aufklärung
bis zur Postmoderne reicht, sondern darüber hinaus der Theologiegeschichte
, ökologische Katastrophe, moralischen Verfall. Vereinsamung des
Menschen usw. berücksichtigt. Diese richtigen und zum Teil auch anregenden
Darstellungen bleiben weitgehend deskriptiv. Ihr Frtrag bleibt unklar,
denn der Autor versäumt es. im Verlauf seiner Kxkurse Kategorien und Fragestellungen
für das avisierte Problem zu enlwickel. Vieles ist bloßes Referat,
oft aus Sekundärliteratur zusammengetragen; einen zusammenfassenden
Verweis auf den jeweiligen F.rkenntnisgewinn für das Thema vermißt
man. Den von Adorno geforderten zwingenden Fluß des Gedankens („Anständig
gearbeitete Texte sind wie Spinnweben: dicht, konzentrisch, transparent
, wohlgefügt und befestigt ") vermißt man. Dementsprechend werden die
Gedanken der Kritischen Theorie referiert, aber nicht auf den Punkt gebracht,
durch den die Kritische Theorie - trotz ihres theologie- und religionskritischen
Ansatzes - mit der Praktischen Theorie kompatibel wird.