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Ausgabe:

1995

Spalte:

265-267

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kroß, Matthias

Titel/Untertitel:

Klarheit als Selbstzweck 1995

Rezensent:

Munz, Regine

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 3

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lieh des neuen Essentialisnuis übt, kann dem Buch nur bescheinigt
werden, daß es saubere, scharte und kenntnisreiche Arbeit
leistet. Freilich wäre es sicher ein Gewinn, wenn die Problemlage
als solche etwas ausführlicher herausgearbeitet und nicht
weithin bereits vorausgesetzt würde. Die eigenen Argumente
des Vt'.s dagegen - wie wir oben an einigen herausgegriffenen
Beispielen gezeigt haben - scheinen uns bisweilen sehr vage.
Die eigene Position, von der aus der Vf. denkt, ist mir - außer
dem Gedanken der „Zentriertheit" - nicht deutlich geworden.

Zum Schluß sei von vielen Fragen, die sich im Weiterdenken
des Buches stellen, eine ausgesprochen. Der frühe Wittgenstein
oder Carnap (also die klassische analytische Philosophie) halten
eine Aussage nur dann für sinnvoll, wenn sie nicht leer ist, also
eine Extension hat. Damit wird aber der Sinn zum Aussagekriterium
, der damit eigentlich außerhalb der Aussage stehen
müßte, um über sie ohne Zirkel befinden zu können. Nun gtit.
man kann hier von Metaaussagen sprechen, für die dann aber
das gleiche gilt. Ist dann aber der Weg wirklich noch weit zu
einem neuen Fssenlialismus. der Gehalte auch außerhalb von
Aussagen behauptet? Sind hier wie dort die Sinnkriterien, also
die Voraussetzungen widersprüchlich? Ist es das, was der Vf.
zeigen will7 Dann würde das Buch Fragen stellen, die es ex-
pressis verbis nicht stellt.

Kassel Günther Keil

Kroß, Matthias: Klarheit als Selbstzweck. Wittgenstein über
Philosophie. Religion, Ethik und Gewißheit. Berlin: Akademie
-Verlag 1993. 274 S. gr.8°. geb. DM 68,-. ISBN 3-05-
002436-4.

Die Untersuchungen, die sich mit der Philosophie Ludwig Wittgensteins
beschäftigen, gehen mittlerweile in die Tausende,
was, so Matthias Kroß, von dem Umstand herrührt, daß das
Werk tles österreichischen Philosophen das Verlangen nach klarem
Verständnis erregt und sich diesem zugleich widersetzt.
Grund hierfür ist Wittgensteins philosophisch gewonnene und
zugleich philosophiekritische Ablehnung philosophischer
Theorie und sein Eintreten für die Offenheit gegenüber der Fülle
der Erscheinungen des Lebens. Eine Stelle aus den Philosophischen
Untersuchungen wird für K. zum Leitmotiv der Witt-
gensteinschen Philosophie: „Denn die Klarheit, die wir anstreben
, ist allerdings eine vollkommene" (PTJ § 133). Hauptanliegen
von K. ist es. einen Beitrag zu dem von Wittgenstein selbst
formulierten philosophischen Programm ..Klarheil als Selbstzweck
" zu leisten. Gerade in diesem Programm, das eine eigene
Methode erfordert, ist laut K. Wittgensteins Originalität zu suchen
. K. wählt als Gegenstand seiner Klärungsarbeit Themen in
der Philosophie Wittgensteins, die bisher eher als Randthemen
behandelt wurden: Wittgensleins Bemerktingen über Religion
und Ethik, zum Begriff des Lebens und Wittgensleins Studien
Uber Gewißheit.

Beispielhaft ist die differenzierte Aufstellung von Wittgensteins
Äußerungen zum Thema Religion: K. sucht - jenseits der
Einordnung von Wittgensleins Religionsverständnis in dessen
Biographie und der Suche nach dem religiösen Menschen -
Wittgensteins Denken über religiöse Ausdrucksformen zu
systematisieren und in dessen philosophisches, .systemkritisches
Programm einzuordnen. Das Ziel Wittgensteins in seinem
Frühwerk, im Tractatus logico-philosophicus. Religion als Lehre
zu destruicren und sie zugleich als eine Haltung gegenüber
dem Leben und der Welt offenbar werden zu lassen, sieht K. als
unter denselben paradoxalen Vorzeichen stehend wie Wittgensteins
Kritik an der Philosophie als Lehre.

Im Rahmen der Frühphilosophie Wittgensteins stellt sich
dessen religionskritisches Programm nach K. folgendermaßen

dar: Im Tractatus legt Wittgenstein den logischen Sinn religiöser
Sätze fest; wenn die Logik die formalen Bedingungen des in
der Welt Möglichen aufzeigt, ist es logisch unmöglich, etwas
Höheres als diese Logik - etwa einen diese Logik garantierenden
Gott - anzunehmen, der auf die Beschaffenheit der Tatsachen
Einfluß nehmen könnte: „Wie die Welt ist, ist für das
Höhere vollkommen gleichgültig. Gott offenbart sich nicht in
der Welt." (TLP 6.432) Daraus zieht Wittgenstein aber nicht die
Konsequenz, den religiösen Glauben Uberhaupt zu verwerfen,
sein Anliegen ist es, den religiösen Glauben als ein Moment der
richtigen Weltsicht, verstehbar zu machen. Religiös zu sein
bedeutet, die Welt in Hinsicht auf ihre Sinnhaftigkeit richtig zu
sehen. K. nennt als Belegstelle eine Tagebuchnotiz vom 11.6.
1916: „Den Sinn des Lebens, d.i. den Sinn der Welt, können wir
Gott nennen. Und das Gleichnis von Gott als einem Vater daran
knüpfen. Das Gebet ist der Gedanke an den Sinn des Lebens,"

Aus der Perspektive der Spätphilosophie Wittgensteins ergibt
sich für K. ebenfalls die Destruktion von Theologie und Religionsphilosophie
als metaphysische Versuche. Glaubensinhalte
als quasi Tatsachen auszuweisen und sie so zu begründen. Nach
langem Schweigen, der Rückkehr nach Cambridge und der
Wiederaufnahme der philosophischen Tätigkeit 1929/1930 entwickelt
Wittgenstein Gedankengänge, die in den posthum veröffentlichten
Philosophischen Untersuchungen Niederschlag
finden.

Das Paradoxon der Destruktion von Religion als Lehre bei
gleichzeitigem Respekt vor dem menschlichen, religiösen Bedürfnis
wird in den Philosophischen Untersuchungen aufgelöst,
indem die Rede von Gott in das spezifische Sprachspiel des
Glaubens [iberführt wird. Wittgensteins Untersuchungen über
die Sprachspiele der Religion drehen sich im wesentlichen um
ilie im Tractatus genannten Themen, um den Sinn des Lebens
und um das damit zusammenhängende Problem der Referentia-
lität von Sätzen, die den Sinn des Lebens betreffen. Die Untersuchung
der Referenz religiöser Sprachspiele richtet das
Augenmerk auf das „Arbeiten" der Sprache selbst. Auch im
Rahmen der Sprachspielanaly.se hat eine Religionsphilosophic
oder Theologie keinen Platz.

K. zitiert Wittgensteins Notiz aus dem Jahre 1949: „Wenn
das Christentum eine Wahrheit ist, dann ist alle Philosophie
darüber falsch". Eine Philosophie der Religion hat demnach
allein die Aulgabe, religiöse Sprachspiele zu analysieren, um zti
klären, welche Rolle sie im Leben der Menschen spielen. Wo
K. Wittgensteins Religions- und Theologickritik darstellt, ist
eine gewisse Unkenntnis theologischer Denktraditionen festzustellen
. In einer seiner letzten Aufzeichnungen kritisiert Wittgenstein
Karl Barth: „Die Theologie, die auf den Gebrauch
gewisser Worte und Phrasen dringt und andere verbannt, macht
nichts klarer (Karl Barth). Sic fuchtelt sozusagen mit Worten,
weil sie etwas sagen will und es nicht auszudrücken weiß. Die
Praxis gibt den Worten ihren Sinn." Wittgenstein nimmt hier
nicht wie K. meint (Kroß 118), Bezug auf die hermeneutische
Bibelauslegung, sondern auf deren Gegenpart, die dialektische
Theologie.

Die Darstellungsweise und Methode, die sich aus Wittgensteins
Programm ergibt, und die in der bisherigen Forschungsliteratur
eher am Rande behandelt werden, sind Hauptbestandteil
von K s Studie. Es gelingt K., Wittgensteins eigenartigen Denk-
und Schreibstil zu erklären: Die Wichtigkeit der Klarheil führt
Wittgenstein, so K., zu einer eigenen Darstellungsweise, wobei
Wittgenstein selbst nach eigener Einschätzunge seinem
Anspruch in dieser Hinsicht nicht gerecht wird. Wittgenstein
verläßt eine systematische Darstellung von Gedankenketten
zugunsten einer lockeren Vernetzung scheinbar unzusammenhängender
Gedankengänge, die er als Menge von Landschaftsskizzen
bezeichnet. Das Programm eines philosophischen
Grenzganges an den Rändern des Sagbaren gewährt litcrari-