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Ausgabe:

1995

Spalte:

264-265

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hägler, Rudolf-Peter

Titel/Untertitel:

Kritik des neuen Essentialismus 1995

Rezensent:

Keil, Günther

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 3

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menschlicher Unfreiheit" (249). In den weiteren Schriften von
1843 führt SK die in E/O „begonnene Diskussion der Ausnahmeexistenz
fort" (269). Interessant und hochdifferenziert sind hier
B.s Ausführungen zum Begriff des Tragischen (21 Off, 217, 225-
237, 266-271, 283-286, 288f, 291-293), ferner 3l4ff, 320-324;
Fazit: Alle Pseudonyme thematisieren es vom Selbstverwirklichungsideal
der Moderne her (322). Der Schicksalsbegriff wird
1843 vertieft (Schwermut als Schicksal 253; Undurchschaubarkeit
der Lebensspielregeln vgl. 255), und die religiöse Leidenschaft
der Freiheit als Lösung anvisiert (Hiob 256f, Abraham
261 ff"). In den Stadien (1845) soll „die ethische Perspektive des
Ganzen... gewahrt werden durch eine religiöse Integration des
Zufälligen in eine vorgangige, sinnvolle Ordnung" (285). Demgegenüber
wird durch Climacus (UN) der Gedanke der „Totalität
der Schuld" (312ff) eingeführt, wodurch gerade dem unschuldigen
Leiden eine religiöse Sonderstellung zukommt (319). Leiden
und äußeres Schicksal (Unglück) werden voneinander ebenso
unterschieden (313) wie beide je für sich: schicksalbestimmtes
Leiden (kontingent) - religiöses Leiden (an der „Unerfüllbarkeit
des Lebens" 314); Nichtobjektivierbarkeit von Glück und Unglück
(316, 318f). Climacus führt zu der Alternative, entweder
Schicksal als Tragik („ästhetisch") zu verstehen, oder sich selbst
durchsichtig zu werden im Leiden (314f). Somit werden Schicksal
und Tragik depotenziert (320Q. Der Christ definiert sieh nicht
durch „verborgene Innerlichkeit", sondern Erwählungsbewußt-
sein (318f). Hier würde sich nun gut die Anti-Climacus-Amyse
(4.3., zur KzT) anschließen (zumal 375ff gut nach 360 paßt):
Verzweiflung - als „Schwachheit" oder „Trotz" - erfolgt aufgrund
von Allmachts- oder Ohnmachtswahn, d.h. entweder die
Grundabhängigkeit(en) träumerisch überspielend oder sie fatalistisch
übersteigernd. „Verzweiflung ist demnach das .Mißverhältnis
' der Freiheit zu ihrer konstitutiven Abhängigkeit, während
das persönliche Gottesverhältnis das rechte, nicht verzweifelte
Abhängigkeitsverhältnis darstellt." (365) Die theologische
Wahrheit des Schicksalsglaubens liegt in der religiösen Einsicht
in die „Geheimnishaftigkeit" und „letzte Unverfügbarkeit des
Lebens" (339). Der Christ kann dabei seine „bleibende Abhängigkeit
", d.h. „Gott als eigentliche Macht" seines Lebens anerkennen
(339 cf. 403) und die Undurchschaubarkeit. Kontingenz
und mitunter Tragik seines Lebens (die der Heide zum Gespenst
einer Schicksalsmacht hypostasiert) als Moment seiner Freiheit
annehmen, „weil er seine Lebensganzheit in all ihrer Zufälligkeit
als von Gott gewollt ansieht" (323). Aber der sog. Zufall hat nach
SKs eigener Ansicht (SüS, Selbstverständnis als Schriftsteller
340-360, 375-395) eine innere Laufrichtung (Konsequenz, Folgerichtigkeit
), die der Einzelne erst ex post verstehen kann.
Durch das Negative hindurch (Spott, Leiden. Mißverständnis;
zum Corsar 353-360, 376fff, 382f) gewinnt er (SK) lebensgeschichtliche
Identität, überwindet den schwermütigen Pönitenz-
status (381 ff) und findet zu einem Christentum der Freude und
Zuversicht (vgl. 384) angesichts der Verheißung „eschatologi-
scher Identität" (401).

Fazit: Was B. liefert, gleicht einem - allerdings gut geglückten
- Marathon. Herausgekommen ist dabei ein (nebenbei gesagt:
sehr preisgünstiges) Buch, thematisch, inhaltlich und gedanklich
aus einem Guß, in allen Partien gut zu lesen, solide und redlich in
der Textanalyse. Gelegentlich sind die Zitate etwas zu lang.
Dänisches unübersetzt und Sekundärautoren kommentarlosunkritisch
präsentiert (z.B. Greve in 2.1., Ringleben Anm. 657,
Thcunissen Anm. 724). Das stört, zerstört aber keineswegs den
Eindruck, hier eines der besten und gehaltreichsten Bücher zu
SK vor sich zu haben, die es in deutscher Sprache gibt. In allen
Teilen macht es einen sehr profilierten, sachverständigen und
(auch über SK hinaus, z.B. in Exkursen zu Hegel oder Sendling)
durchweg kompetenten Eindruck.

München Walter R. Diet/

Hägler, Rudolf-Peter: Kritik des neuen Essentialismus. Identität
- Modalität - Referenz. Paderborn: Schöningh 1994.
240 S. 8o. Kart. DM 88,-. ISBN 3-506-73602-7.

„Der Essentialismus ist eine philosophische Lehre, die gewöhnlich
Aristoteles zugeschrieben wird. Sie besagt, grob und unari-
stotelisch gesprochen, daß es notwendige und kontingente
Eigenschaften von Dingen gibt und zwar unabhängig davon,
wie wir die Dinge konzipieren und beschreiben." (9) Mit dieser
recht „groben" Definition seines Gegenstandes beginnt das
Buch. Nun freilich gelten seine Bemühungen nicht dem philosophischen
Essentialismus als ganzen, sondern nur dem aus der
analytischen Philosophie hervorgegangenen. Hier scheint es
nun in der Tat einer eingehenden Untersuchung wert zu sein,
wie es ausgerechnet aus dem analytischen Denken heraus zu
einer neuen Metaphysik, zu einem neuen Essentialismus kommen
konnte. Diese neue Denkrichtung wurde besonders durch
S. A. Kripke und H. Putnam herbeigeführt. Der Vf. unterzieht
nun diesen neuen Essentialismus, aber auch die damit zusammenhängenden
Probleme der älteren analytischen Philosophie
(Frege, Carnap und andere) einer eingehenden Kritik.

Nach einer „Einleitung", die freilich methodologisch sich
über die Analytizität hinaus keinerlei Gedanken macht, folgen
als Teil I Probleme der Identität. Wie ist - besonders in einer
formalisierten Sprache - nicht-triviale Identität deutbar'.' Wie
kann sie eine Relation sein (A = A ist doch eine Relation zwischen
zwei Relaten), wo sie doch die Identität, also das Einssein
der „Relate" aussagt? Der Rez. konnte sich hier eines Seitengedankens
nicht enthalten, wie einfach es doch hier die Transzendentalphilosophie
hat, die nicht-triviale Identität als einen einzigen
Gegenstand innerhalb verschiedener Horizonte zu deuten.
Teil II, der der Modalität gilt, beschäftig sich dann von modallogischen
Überlegungen her mit vielen, also auch anderen möglichen
Welten und fragt, ob unsere Semantik auch für diese
Welten gälten. Der neue Essentialismus behauptet hier „starre
Designatoren", die für alle möglichen Welten gültig sind und so
auf ein „Wesen", das „an sich" gilt, hinweisen. Der Vf. lehnt
solche „starren Designatoren" ab. Aber ist ein Begriff, der
anderswo etwas anderes bedeutet, noch univok? In Teil III werden
die Untersuchungen hinsichtlich singulärer Termini, in Teil
IV hinsichtlich genereller Temini weitergeführt. Dem Vf.
scheint die „neue Referenztheorie", die zum neuen Essentialismus
führt, verfehlt zu sein. „Zahlreiche Beispiele aus allen
Bereichen der Naturwissenschaft sprechen dagegen" (178).
Aber haben wir es nicht eigentlich mit semantischer Logik und
nicht mit Naturwissenschalt zu tun'.' Das ist freilich nur eines
von vielen Argumenten des Vf.S, deren Beweiskraft fragwürdig
ist (Vgl. z.B. die gleiche metabasis ein allo genos 216). Freilich
folgt er hier z.T. auch seinem behandelten Sujet. Teil V („Zur
Kritik des Essentialismus") zieht dann das Fazit der antiessen-
tialistischen Kritik: „Der Begriff der Relevanz ist aber stets auf
Interessen und Zwecke bezogen, niemals absolut. Wir geraten
zusehends in trübere Gewässer, doch in solch trüben fielen
liegt der Ursprung unserer Rede vom .Wesen'." (231) Solehe
Relevanz liegt somit - immer von einem bestimmten Sprachgebrauch
abhängig und damit auf ihn relativ - lediglich im episte-
mologischen Bereich, im Bereich de dicto und nicht im ontolo-
gischen Bereich de re, wie der Essentialismus meint. Hier wäre
mindestens ein Hinweis auf E. Husserl notwendig, der „Wesen"
schon im Blick auf seine Epoche keinesfalls ontologisch-meta-
physisch versieht und doch auch von „Wesen" spricht. Der Vf.
will dann den Begriff „Wesen" durch den der „Zentrierilieil"
ersetzen, der ihm offener erscheint. Aber ist nicht schon bei
Aristoteles Wesen als Entelechie hinsichtlich des Faktischen
sehr offen verstanden worden'.'

Im Blick auf die Kritik, die der VI. sowohl hinsichtlich der
alten analytisch-philosophischen Positionen als auch hinsieht-