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Ausgabe:

1995

Spalte:

259-261

Kategorie:

Kirchengeschichte: Territorialkirchengeschichte

Autor/Hrsg.:

Sommer, Karl-Ludwig

Titel/Untertitel:

Bekenntnisgemeinschaft und bekennende Gemeinden in Oldenburg in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft 1995

Rezensent:

Otte, Hans

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259

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 3

260

Sommer, Karl-Ludwig: Bekenntnisgemeinschaft und bekennende
Gemeinden in Oldenburg in den Jahren der nationalsozialistischen
Herrschaft. Evangelische Kirchlichkeit
und nationalsozialistischer Alltag in einer ländlichen Region.
Hannover: Hahn 1993. 506 S. gr.8° = Veröffentlichungen der
historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, 39.
Niedersachsen 1933-1945, Bd. 5. Kart. DM 132-. ISBN 3-
7752-5874-4.

Die Erforschung des Alltags und die Untersuchung provinzieller
und lokaler Lebenswelten in der NS-Zeit hat zu einer erheblichen
Differenzierung des Widerstandsbegriffs geführt. Nicht-
angepaßtes Verhalten und partielle Resistenz wurden begrifflich
erfaßt und beschrieben. Infolgedessen konnte auch das Verhalten
vieler kirchlicher Amtsträger und Kirchenmitglieder angemessener
wahrgenommen werden, die sich nicht als politische
Widerständler verstanden, aber auf ihrer teilweisen Differenz
zur nationalsozialistischen Ideologie beharrten. Die vorliegende
Arbeit hat in dieser Forschungssituation zwei Ziele: Sie
will die Methoden alltagsgeschichtlicher Forschung auf den
„Kirchenkampf' und insbesondere auf das Verhalten der Bekennenden
Kirche (BK) in Oldenburg anwenden und sie will
zugleich davor warnen, die betroffenen Kirchenleute zu exkulpieren
, die bei aller Resistenz im Einzelnen die NS-Herrschaft
bis 1945 unterstützten.

Seine Fragestellung arbeitet Sommer in einem breit angelegten
Forschungsüberblick heraus und betont dabei seine strikte
Distanz zur Kirchengeschichte und ihren Fragestellungen. In
einem ersten Teil schildert er die Entwicklung des Verhältnisses
der evangelischen „Amtskirche" zu Staat und Partei, ohne dabei
präzise zu definieren, was er unter Amtskirche versteht. Da es
bisher keine größere Darstellung des Kirchenkampfs in Oldenburg
gab, ist diese aus den Quellen geschöpfte Darstellung weiterführend
: Als lutherische Landeskirche bis 1945 von einer
deutsch-christlichen (DC) Kirchenleitung geführt, konnte die
BK parallele kirchenleitende Organe aufbauen. Ihnen unterstellten
sich zeitweise drei Viertel aller Pfarrer, und sie wurden
bis Kriegsende nie vollständig zerschlagen, ja zuletzt gewannen
sie sogar schon wieder mehr Einfluß. Möglich wurde das durch
die polykratische Herrschaftsstruktur des NS-Staats und die
Fortexistenz des Landes Oldenburg mit einer bürokratischen
Elite, die sich lokalen Traditionen verbunden fühlte.

Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit dem alltäglichen
Verhalten der BK-Gemeinden in Oldenburg. Er beruht auf
einer intensiven Durchsicht der meisten örtlichen Pfarrarchive
im Bereich der Oldenburger Landeskirche und ist der instruktivste
Teil des Buches. Der Vf. bietet zunächst eine kurze Übersicht
über die herkömmliche Form der geringen kirchlichen
Bindung in den Oldenburger Landgemeinden und skizziert das
Beziehungsgeflecht zwischen Pfarrer, Kirchenrat, Kirchenmitgliedern
und den örtlichen Eliten. Vor diesem Hintergrund
schildert er dann die Herausbildung und Existenz der BK-Gemeinden
. Er unterscheidet dabei mehrere Typen: (1.) Gemeinden
, in denen die BK als selbstverständlicher Teil des örtlichen
Milieus galt, so daß Eingriffe von außen, also von Partei- und
Staatsstellen zur Disziplinierung von kirchlichen Amtsträgern
entweder ganz ausblieben oder relativ erfolgreich abgewehrt
werden konnten. (2.) Gemeinden in Industriestädten, bei denen
die Nationalsozialisten ihren Herrschaftsanspruch nur mit Mühe
durchsetzen konnten; daher war ihnen nicht an zusätzlichen
Konfliktherden gelegen, nur im Notfall unterstützen sie die DC-
Kirchenleitung, wenn sie andernfalls eine Minderung ihres umfassenden
Herrschaftsanspruchs befürchten mußten. (3.) Gemeinden
, in denen es zu Konflikten zwischen BK-Anhängern
und NS-Herrschaftsträgern kam, weil diese ihre Autorität demonstrieren
mußten. Als Außenseiter im Ort suchten manche
NS-Funktionsträger gerade die Auseinandersetzung mit BK-

Pfarrern, um ihre Macht zu beweisen. Umgekehrt konnten manche
BK-Pfarrer keinen Anschluß an die örtlichen Eliten finden,
dann konnte an ihnen gefahrlos ein Exempel für den NS-Herr-
schaftsanspruch statuiert werden. Die unterschiedlichen Verhaltensformen
und ihren Zusammenhang mit dem jeweiligen
Sozialmilieu vermag der Vf. plausibel zu machen. Dabei überzeugt
die Schilderung des Verhaltens ländlicher Kirchengemeinden
stärker als derjenigen im städtischen Umfeld - dort
sind die unterschiedlichen Faktoren überschaubarer, die auf das
.System' Kirchengemeinde wirken.

Im dritten Teil schildert S. dann das Verhalten der BK-Gemeinden
und der von den BK-Anhängern dominierten Gemeinden
in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Für ihn war das Verhalten
der NSDAP und der staatlichen Stellen gegenüber der BK nicht
durch grundsätzlich ideologische, sondern „letztlich von pragmatischen
Gesichtspunkten der Machtcrhaltung" bestimmt, und
umgekehrt unterstützten nicht nur die DC, sondern auch die BK-
Pfarrer die NS-Kriegsführung ideologisch bis zum Ende. Allerdings
sind die Belege für diese These für die Zeit nach 1943
schwach; als wichtiges Argument dafür dient ihm die Bitte der
DC-Kirchenleitung die mit der BK einen,Burgfrieden' geschlossen
hatte, im Frühjahr 1945 die Veranstaltungen von Partei und
Wehrmacht am Heldengedenktag nicht auf die Kirchzeit zu
legen. Das trübe Bild kirchlicher Aktivitäten wird im abschließenden
Uberblick über die Nachkriegszeit in keiner Weise
aufgehellt. Die Kirche erwies sich als Verteidigerin der nationalkonservativen
Eliten, Schuldbekenntnisse - die Oldcnburger
Synode formulierte im Oktober 1945 ein eigenes Schuldbekenntnis
- waren zu theologisch und die politische Einstellung der Kirchenleitung
entsprach den „restaurativen Grundtendenzen, die
die... Entwicklung in Westdeutsehland... prägten." S. folgt den
Konzepten der ,restaurativen' Nachkriegsgeschichte Westdeutschlands
, ohne die neuere Diskussion um die Modernisierung
und ,Verwestlichung' auch nur zu erwähnen. Er beschränkt
sich auf das Handeln der kirchenleitendcn Organe und verzichtet
auf eine Analyse der ortskirchlichen Arbeit, etwa bei der Aufnahme
der Flüchtlinge, die ja das überkommene Verhältnis /.wischen
traditioneller Ortselite und kirchlich organisiertem Christentum
erneut in Frage stellten. Das Fazit des Vf.s entspricht der
Eingangsthese: Die gesamten Anstrengungen der BK zielten auf
den „Erhalt eines kirchlichen Reservats", und waren - weil sie
sich von den gewalttätigen Erscheinungen der NS-Herrschaft
weitgehend abschotteten - „letztendlich (ein) die nationalsozialistische
Herrschaft stabilisierenden Faktor".

Die Arbeit besticht durch die Materiallülle, aus der der Vf.
schöpft und die er mit Hille seines Deutungsschemas bewältigt.
Insbesondere für die örtlichen .Kirchenkämpfe' legt er eine
überzeugende soziologische Analyse vor und relativiert damit
plausibel die Reichweite theologischer Argumente und Deutungen
. Dennoch bleibt im positiven Urteil ein Vorbehalt. S. will
beweisen, daß die theologische Qualität des Widerstands stets
irrelevant und die BK durchweg ein komplizenhafles Verhältnis
zur NS-Herrschaft gehabt habe. Folglich ignoriert oder bagatellisiert
er Phänomene, die sich nicht nahtlos in diese These einfügen
. So werden die Auseinandersetzungen prinzipiell auf
einen kircheninternen Streit reduziert, bei dem es „allenfalls am
Rande um einen Gegensatz zwischen christlichen Glaubensüberzeugungen
und der nationalsozialistischen Weltanschauung
, sondern fast ausschließlich tun letzten Endes abstrakte
Rechtspositionen ging." Diese Deutung ist bei vielen Aktionen
der BK sicher plausibel, aber durchaus nicht bei allen. Für S.
können Religion und Kirche keine eigenständige Relevanz entfalten
, da ihr Verhalten nicht unmittelbar auf die Beseitigung
der NS-Herrschaft zielte. Damit kann er jedoch das Verhalten
nicht angemessen wahrnehmen, das sich - religiös motiviert -
konkreten Zumutungen des Regimes entzog, So nennt S. bei
seiner Schilderung des Streits über die Zulässigkeit der Becrdi-