Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1995

Spalte:

252-254

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Matthias, Markus

Titel/Untertitel:

Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen 1995

Rezensent:

Gummelt, Volker

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

251

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 3

252

wichtig erscheinende Passagen enthalten. Dies muß auch ihnen
gegenüber beachtet werden.

Der Inhalt der Gespräche bezieht sich auf Fragen des Abrisses
einer baufällig gewordenen Kirche, die so ungemein beschwerenden
Schulfragen, Probleme der Diakonie, das Lutherjubiläum
1983, die Kirchentage 1978 und 1989, Umweltfragen,
aber auch auf solche Probleme, über die man heute nur noch
lachen kann. So mußte die „sozialistische Gesetzlichkeit" einer
Kirchgemeinde gegenüber durchgesetzt werden, die es gewagt
hatte, aus Abfällen eine Plakette zu ihrem Gemeindejubiläum
herstellen zu lassen, nachdem die mündliche, aber noch nicht
die schriftliche Genehmigung erteilt worden war! Zunehmend
spielen Probleme mit „alternativen" Jugendlichen eine Rolle,
gegen die der Staat äußerst rüde vorging. Interessant die Definition
des Stellv. Vors. des Rates des Bezirkes: „Demonstration
ist es, wenn mehr als 3 Personen in der Öffentlichkeit mit gleichem
Material (Kerze) erkannt werden. Dies fällt unter die
WO [Veranstaltungsverordnung] und wird, wenn nicht gemeldet
, polizeilich verfolgt" (203)! 1984 heißt es von staatl. Seite:
„Jugendliche Formen des Friedenswillens in der Kirche sind
gefährliche Utopien" (216). Sie polemisiert dagegen, daß die
Kirche Leuten Raum gewährt, die mit ihr nichts zu tun haben
und nur ihre Aversionen gegen den Staat abreagieren (226,
anders 243). Natürlich spielen die Ereignisse vom Herbst 1989
eine große Rolle. Man merkt, wie die Ereignisse eskalieren, aus
der Kontrolle geraten und wie im Grunde beide Partner ihnen
hilflos gegenüber stehen. Man kann lesen, wie gerade in Leipzig
die Superintendenten sich häufig vor die Gruppen gestellt
haben, die unter dem Dach der Kirche Schutz gesucht haben.
Interessant, wie 1977 die Tendenz der Aussagen eines Mitarbeiters
des ZK der SED für Kirchenfragen protokolliert wurde: „Je
mehr die Kirche zu einer Bejahung des Sozialismus in der DDR
findet, bereit ist, sich auf ihre eigene Identität zu besinnen (mit
meinen Worten: wenn sie sich politisch zurückhält und keine
Verbindung zu anderen internen Kritikern sucht], um so mehr
ist die SED bereit, der Kirche Betätigungsmöglichkeiten zu
gewähren..." (84). Bei einigen Gesprächen waren Vertreter der
Sektion Theologie der Universität zugegen, deren „lange und
breite Akklamationen" aber nicht protokolliert wurden (102,
122, 233).

Im Nachwort werden die drei Kriterien des „begrenzten politischen
Mandats der Kirche" benannt: Deutlicher Zusammenhang
alles Tuns und Bezeugungen mit dem Evangelium; nüchterne
Anerkennung der Tatsache, daß die Kirche kein eigenes
politisches Programm zu bieten hat; Eintreten der Kirche für
alle gesellschaftlich und politisch geächteten Mitbürger (316).
Es wird auch deutlich, daß es nicht um politisch motivierten
Widerstand ging, wenn die Montagsgebete nicht abgesagt wurden
, wie die Staatsvertreter unablässig forderten, sondern um
die theologische Erkenntnis, daß man sich von außen her nicht
bei der Entscheidung beeinflussen lassen dürfe, was in der Kirche
zu geschehen hat. Die Protokolle zeigen einerseits die
„knallharte Theorie von der Unvereinbarkeit einer marxistisch
orientierten Gesellschaft mit der Kirche", andererseits das ständige
Bemühen des Staates, sich „Einfluß auf das kirchliche
Leben zu verschaffen" (320).

Bedenklich ist, daß (208) Namen von solchen mit Straße und
Hausnummer (!!) stehen, die als „Problempersonen" bezeichnet
werden. Sie hätten geschwärzt werden müssen! Einige entstellende
Druckfehler fallen auf. Falsch ist die Angabe auf S. 161,
Anm. 2: Auch die „Bausoldaten" leisteten ihren Dienst 18
Monate; Totalverweigerer wurden zu 24 Monaten Strafvollzug
verurteilt; auch der „Soziale Friedensdienst" sollte 24 Monate
dauern.

Insgesamt gilt: Die Veröffentlichung war dringend notwendig
. Hoffentlich folgen bald andere nach, etwa Protokolle über
„Spitzengespräche" bzw. Gespräche zwischen Landeskirchenamt
und den Räten der Bezirke. Wären solche Protokolle früher
veröffentlicht worden, hätte mancher Schaden, den die Kirche
in den letzten Jahren erlitten hat, vermieden werden können.

Freiberg Karl-Hermann Kandier

Matthias, Markus: Johann Wilhelm und Johanna Eleonora
Petersen. Eine Biographie bis zur Amtsenthebung Petersens
im Jahr 1692. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993.
404 S. gr.8° = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 30.
Lw. DM 128,-. ISBN 3-525-55814-7.

Zu den fesselndsten und überragendsten Gestalten des sog. radikalen
Pietismus gehören Johann Wilhelm Petersen (1649-1726)
und dessen Frau Johanna Eleonora, geb. von Merlau (1644-
1724). Beide werden in allen breiteren Darstellungen des Pietismus
ausführlichst behandelt, in jeder allgemeinen Darstellung
der Kirchengeschichte des 17. und frühen 18. Jh.s zumindest
erwähnt. Erstaunlicherwei.se ist jedoch bis zu der von Hans
Schneider (Marburg) angeregten Dissertation von Markus Matthias
kein detailliertes, dem wissenschaftlichen Standard entsprechendes
Lebensbild zu den Petersens veröffentlicht worden
. Der Grund hierfür mag darin zu finden sein, daß sowohl
von Johann Wilhelm als auch von Johanna Eleonora Autobiographien
im Druck vorliegen, die freilich teilweise sehr verklärte
Kenntnisse über deren Leben vermitteln.

Nach dem Titel des Buches vermutet man bei der Arbeit von
M. eine Doppelbiographie, die das Zusammengehen des Ehepaares
im privaten Leben und theologischen Denken beleuchtet.
Doch leider erfüllt sich diese Erwartung nicht ganz. Wie im
Untertitel angedeutet, richtet M. das Hauptaugenmerk in seinen
Untersuchungen auf den Werdegang von Johann Wilhelm Petersen
. Dagegen wird seine Frau, schon rein vom Seitenumfang
her gesehen, in den Schatten ihres Mannes gestellt.

Seine Lebensbeschreibung bis zu Petersens Amtsenthebung
im Anfang des Jahres 1692 gliedert M. in fünf, sehr unterschiedlich
umfangreiche Teile.

Der erste Abschnitt (18-45) verfolgt die Entwicklung J. W.
Petersens bis einschließlich seines Studiums in Gießen und
Rostock. M. kann sich dabei auf nur wenige gesicherte Fakten
zur Person Petersens stützen. Doch durch die Berücksichtigung
von anderen Quellen aus dem weiteren Umfeld gelingt es ihm,
eine aufschlußreiche Darstellung von der Herkunft und dem
Bildungsweg des jungen Mannes zu geben.

Der zweite Teil (46-95) ist den ersten Begegnungen Petersens
mit der pietistischen Bewegung in Frankfurt am Main
gewidmet. Neben Johann Jakob Schütz war auch für Petersen
hier die überragende Gestalt Philipp Jacob Spener, den er 1672
kennenlernte. In einem gesonderten Kapitel stellt M. dann
Petersens spätere Frau Johanna Eleonora von Merlau vor, mit
der dieser ebenfalls in Frankfurt, wohl aber erst im Frühjahr
1676 Kontakt aufnahm. M.s Schilderung macht sichtbar, daß
Petersen keine plötzliche Bekehrung zum Pietismus erlebte,
sondern daß sich seine Rezeption pietistischer Gedanken eher
rational als emotional gestaltete und auf einen längeren Zeitraum
erstreckte.

In einem kurzen dritten Abschnitt (96-117) berichtet M.
anhand erhaltener Archivalien sehr genau von den weiteren beruflichen
Stationen Petersens in den Jahren 1677/78 als Kandidat
der Theologie im heimatlichen Lübeck, als Professor für Poesie
in Rostock und als Pfarrer an der Aegidienkirche in Hannover.

Ausführlicher wird in einem vierten Teil (I 18-197) die zehnjährige
Tätigkeit Petersens als Superintendent und Hofprediger
in dem kleinen protestantischen Fürstbistum Lübeck-Eutin
geschildert. Vor allem in diesem Abschnitt setzt sich M. sehr
kritisch mit Petersens eigener Darstellung auseinander. Nach