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Ausgabe:

1995

Spalte:

250-252

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Sorget nicht, was ihr reden werdet 1995

Rezensent:

Kandler, Karl-Hermann

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249

Theologische Lileraturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 3

250

Themen „kreist", indem er sie mehrfach und in verschiedenen
Zusammenhängen zur Sprache bringt. Den sich daraus ergebenden
, manchmal verzichtbar erscheinenden Wiederholungen
steht eine m.E. unvertretbare Kürze der Darstellung im einzelnen
gegenüber, die zunächst auf Kosten des wissenschaftlichen
Diskurses geht. Sekundärliteratur wird zwar angemerkt, H. tritt
aber nicht in ein Gespräch mit ihr ein. Die notwendige Abwägung
verschiedener Positionen findet kaum statt; der eigene
Forschungsbeitrag wird nicht deutlich herausgearbeitet. Wer
einen Vergleich der Theologie Luthers mit der Leo Baecks auf
acht Seiten vorlegt, um nur das vielleicht krasseste Beispiel
noch einmal aufzugreifen, setzt sich aber auch in der Sache
selbst dem Vorwurf unzulässiger Verkürzung aus.

In dem genannten Fall ist diese Verkürzung darum besonders
ärgerlich, weil sie im Ergebnis lediglich der Wiederholung
jenes notorisch christlich-theologischen Schemas „Gesetz und
Gnade" sowie der Festlegung der Juden auf die Position der
Selbstrechtfertigung durch Werke dient. Zur angeblichen
„Uberzeugung Baecks und des Judentums", nach der der
Mensch sich durch sein Tun vor Gott rechtfertigen könne, sei
freilich, so H.. „kritisch anzumerken", daß es „durchaus Belege
in der hebräischen Bibel gibt", die nicht sie, sondern eher die
Position Luthers stützen. (132) Ist dies die Art des „Dialogs"
oder des „interreligiösen Gesprächs" (146), die dem Autor vorschwebt
?

Soll „das" Judentum darin weiterhin, wie bei Baeck, seine
Identität im Gegenüber zum Christentum definieren und dabei
seine Existenz aus der Kontinuität mit dem biblischen Judentum
rechtfertigen? Schreibt der Autor hier nicht wiederum, wie
seinerzeit Harnack und so viele andere vor ihm, „dem" Judentum
(mit Baeck als Kronzeugen) eine Rolle und Identität zu, mit
der es sich dann christlicherseits bequem leben läßt? Umgekehrt
aber bezeichnet er Leo Baecks „defensive Intention" in seinen
Schriften über das Christentum als dem Dialog abträglich und
wirft ihm vor: „Wer nur daran interessiert ist, die eigene Überlegenheit
zu dokumentieren, ist nicht fähig zur Kommunikation
." (146)

Das Christentum ist nicht unter Luther, das Judentum nicht
unter Baeck zu subsumieren; vor allem aber ist der jüdisch-
christliche Dialog nicht ein beliebiges „interreligiöses Gespräch
im fruchtbaren Austausch von .Ich" und ,Du"" (146). Ein solches
Verständnis entzieht sich nicht nur den theologischen Aufgaben
, die sich aus der Asymmetrie des christlich-jüdischen
Verhältnisses für die christliche Seite ergeben (das Christentum
ist im Judentum verwurzelt, nicht aber umgekehrt), sondern es
läßt auch die historische Dimension dieses Verhältnisses letztlich
außen vor. So zeugt es von einem zu oberflächlichen, wenn
auch von Versöhnungswillen geleiteten Wunschdenken, wenn
H. zum Holocaust, einem entscheidenden Bezugspunkt jüdischer
Identität heute, lediglich bemerkt, er habe „die Rivalität
zwischen den beiden Schwestern, Kirche und Synagoge, in den
Hintergrund treten und größeres Verständnis und gegenseitige
Wertschätzung wachsen lassen". (136) Es ist doch sehr die Frage
, ob der Autor damit jüdische Existenz „in der modernen
Welt" - und das ist heute die Welt nach Auschwitz - differenziert
genug wahrnimmt und in seine Überlegungen einbezieht.
Die sich daraus ergebenden Anfragen an die christliche Identität
kommen auf diese Weise ebenfalls nicht in den Blick.

Es ist dem Baeck-Biographen Albert H. Friedländer zu danken
, daß er mit seinem dem Buch als Einleitung vorangestellten
, eindringlichen Kapitel über „Leo Baeck in Theresienstadt"
an diese Realität und zugleich an Baecks damaliges beredtes
Schweigen über das Versagen der Masse der Christen und ihrer
Institutionen erinnert.

Berlin Hans-Jürgen Becker

Kaufmann, Christoph, Mundus, Doris, u. Kurt Nowak |Hg.]:
Sorget nicht, was ihr reden werdet. Kirche und Staat in
Leipzig im Spiegel kirchlicher Gesprächsprotokolle (1977-
1989). Dokumentation. Mit einem Nachwort von J. Richter.
Leipzig: Evang. Verlagsanstalt 1993. 344 S. 8° ISBN 3-374-
01474-7.

Diese Veröffentlichung war als Pendant zu Besier/Wolf, „Pfarrer
, Christen, Katholiken" längst fällig. Es ist unbegreiflich
(daraufgeht das Vorwort nicht ein), daß einige kirchenleitende
Stellen sich vor der Veröffentlichung solcher und ähnlicher
Dokumente scheuen. Schon längst waren sie, auch vom Rez.
selbst, angeregt worden. Denn nur durch sie kann ein schiefes
Bild, das durch die Veröffentlichung von Besier/Woll u.a. entstanden
ist, in ein rechtes Licht gerückt werden: „Im übrigen
ging es auch darum, bestimmten Tendenzen zur Pflege zeithistorischer
.Einseitigkeiten'" entgegenzuwirken (32).

Die Hgg. legen Protokolle vor, die Vertreter der kirchlichen
Seite über die in der ehem. DDR üblichen Gespräche mit Vertretern
staatlicher Organe in Leipzig angefertigt haben. Sie sind
im vollen Wortlaut und für die Jahre 1977-1989 vollständig
abgedruckt worden. Das Jahr 1977 hängt offensichtlich mit dem
Dienstbeginn des zumeist protokollierenden Superintendenten
J. Richter 1976 zusammen. Leider sind nur die kirchlichen Protokolle
und nicht die staatlichen Gegenstücke dazu abgedruckt
worden. Diese stehen aber „nur noch selektiv zur Verfügung",
d.h. sie sind „gesäubert" worden.

Den Protokollen ist ein recht knapp gefaßtes Vorwort vorangestellt
. Es bewertet sie „als Quellen der kirchlichen Zeitgeschichte
", ordnet sie chronologisch bestimmten (teils allgemeinen
, teils lokalen) Ereignissen zu und gibt sparsame editorische
Bemerkungen. Leider bringen die Hgg. zu wenig erläuternde
Fußnoten zum Text: Selbst dem Rez., der zu der Zeit im kirchlichen
Dienst in Sachsen stand, sind manche Protokollaussagen
unverständlich.

Dem Nicht-Leipziger lallen Leipziger Besonderheiten auf. so
die häufigen Referate von H. Dohle, „Chefideologe" des Staatssekretariats
für Kirchenfragen, der im Ton sich sehr verbindlich
, in der Sache knallhart äußerte („Über die Macht diskutieren
wir nicht. Wenn das geschieht, dann ist es das Ende des
Sozialismus", 227); ebenso, daß die sonst kirchlicherseits so
peinlich beachtete Einhaltung der Ebene (I49f. u.a.), die Forderung
, keine Pressemilteilung zuzulassen, weil man auf sie kaum
Einfluß hatte (219 u.a.) oder die, an städtischen Empfängen
(217) nicht teilzunehmen, nicht immer eingehalten wurde.

Auf die 82 Protokolle kann natürlich hier nicht im einzelnen
eingegangen werden. Dies nur sei gesagt: Man lernt den kirchlichen
Alltag in der DDR gut kennen, das, was „Kirche im Sozialismus
" eigentlich war, nämlich Kirche in der sozialistischen
Gesellschaft, in der sie lebte und wirkte. Ganz selten haben die
Vertreter der Kirche positiv zum Sozialismus Stellung genommen
, aber auch dann kritisch (271, 283). Die Protokolle enthalten
sicher auch einige bedenkliche Aussagen, so diese von
1980: „Die Machtfrage ist geklärt. Damit auch die Frage nach
der Verantwortung" (133), die so protokolliert ist, als ob man
dies den Staatsvertretern gegenüber erklärt habe. Viel, viel häufiger
stehen kritische Äußerungen, die den Staatsvertretern gegenüber
erhoben wurden, so diese: „Schließlich sind die jungen
Leute das Erziehungsergebnis einer perfekten sozialistischen
Volksbildung von der Kinderkrippe bis zur Hochschulreife"
(237). Natürlich brüllte man sich in den Gesprächen nicht an.
Iläufig heil.lt es, die Gespräche fanden in entspannter Atmosphäre
statt, manchmal aber auch, sie seien in der Sache hart
gewesen (1981: „Ich habe bisher noch nie eine so harte, ernste
Atmosphäre erlebt", 147).

Solche abschließenden Wertungen sind nötig, da natürlich
Protokolle immer subjektiv sind und nur dem Protokollanten