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Ausgabe:

1995

Spalte:

3

Autor/Hrsg.:

Hübner, Hans

Titel/Untertitel:

- 22 Rudolf Bultmanns Her-Kunft und Hin-Kunft 1995

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 1

4

Hans Hübner
Rudolf Bultmanns Her-Kunft und Hin-Kunft

Zur neueren Bultmann-Literatur

1. Vielleicht lächelt der eine oder die andere ein wenig darüber, blemkomplex von höchster Brisanz vorliegt, haben wichtige
wie der Autor die Überschrift so schön gestelzt formuliert hat. ihrer Vertreter geahnt. Aber aufgrund ihrer zumindest teilwei-
Und dann auch noch die Bindestrich-Orthographie! Nun mag es sen Unfähigkeit, wirklich theologisch zu denken, hat sie sich
gar nicht so schlecht sein, wenn man in unseren Zeitläuften selbst nur partiell verstanden. Gerade im Blick auf sie gilt das
Menschen zum Lächeln bewegen kann. Aber das war gar nicht hermeneutische Postulat, daß ein Autor besser verstanden wer-
so sehr meine Absicht. Vielmehr geht es mir sehr ernsthaft um den kann, als er sich selbst verstanden hat.
die Sache, die hier zu bedenken ist. Denn wer über Rudolf Bult- Genau dieser Sachverhalt ist es, den S. in seiner bei Otto
mann (B.) bzw. über die ihn und seine Theologie thematisieren- Merk angefertigten Dissertation thematisiert. Seine Fragesteide
Literatur schreibt, der wird immer wieder auch mit Martin lung behandelt also ein wichtiges Desiderat der heutigen theo-
Heidegger (Hei.) und seiner Philosophie konfrontiert. Dann ist logischen Forschung. Hermeneutische Plausibilitätsstrukturen,
man aber auch gezwungen, sich auf seine Sprache, seine wie sie z. Z. B.s und seiner „Schule" - dieses Wort in AnSchreibweise
, seine oft eigenwillige, vielleicht auch eigensinni- führungszeichen, weil seine Schüler höchstens in diffundierenge
Orthographie einzulassen. Hei. wollte Neues sagen. Und er der Weise seine Gedanken, soweit sie in einer philosophischen
glaubte. Neues nur mit neuer Sprache sagen zu können. Und er Hermeneutik fundiert sind, weiterdachten - bestanden, sind
tat es, ohne daß ihn deshalb George Orwells Verdikt über das heute zerbrochen. Ein hermeneutisches Bewußtsein, das diesen
"Newspeak" ernsthaft treffen müßte. Ich gestehe, daß ich mich Namen verdient, nämlich ein Umgetriebensein von der Frage,
oft über seine Sprache geärgert habe und - daß ich oft ihrer Fas- wie denn die Aussagen des Neuen Testaments so verstanden
zination erlegen bin. Es ist nun genau die Frage, inwiefern B. werden können, daß ihre theologische Kraft über den akademi-
von Hei. herkommt. In Abwandlung eines B.-Diktums: Das sehen Bereich hinaus der kirchlichen Verkündigung zugute
„Daß seines von Hei. Hergekommenseins" bedarf keiner Be- kommt, fehlt heute nicht nur vielen Studenten, sondern auch
gründung. Aber: Daß er zuweilen selbst da, wo man bei ihm leider manchen Vertretern der theologischen Wissenschaft.
Hei.-Erbe als gegeben voraussetzte, von diesem Philosophen Sicherlich lebt die Kirche nicht nur von ihren theologischen
gerade nicht beeinflußt war, hat er dem Vf. dieser Zeilen schon Fakultäten, aber wie die Verkündigung des Evangeliums in ihr
vor einem Vierteljahrhundert brieflich mitgeteilt. Wie also steht geschieht, hat auch, und zwar recht wesentlich, mit der Situati-
es mit der Her-Kunh des Marburger Theologen? Inwiefern on an den Fakultäten zu tun!

spielt die Religionsgeschichtliche Schule (RS) dabei ihren Part? Zur Inhaltsübersicht: Nach einem einführenden Kap. bringt das 2. Kap.

Inwiefern läßt sich B. auf Hei.s Denken ein? Welche anderen den Versuch einer analytischen Definition des Begriffs RS. S. faßt sie als

ny au ■ j 1. n r j -i tt eine innertheologische Schule, die um 1890 aus einem Freundeskreis Göt-

Einflusse sind gegeben? Von der jeweils angenommenen Her- „ , , , B . „ . ., , , . . . 7- ,

° b J ° . tinger Gelehrter erwuchs; S. 24: „In ihrer Blütezeit setzte sie sich /.um Ziel,

Kunft ist aber auch die //w-Kunft bedingt. Wohin will B. mit unter besonderer Beachtung des Volksglaubens, speziell im Vergleich mit

seiner Interpretation des Neuen Testaments kommen? Was ist der spatjüdischen und hellenistischen Religiosität, Eigenart. Entwicklung

seine theologische, seine hermeneutische Intention? "'«1 bisweilen Absolutheit der christlichen Religion aufzuzeigen. Ihr Profil

Die hier zu rezensierenden Publikationen stammen aus der gewann sie durch die Abgrenzung gegenüber der einseitig literarkritisch

r , ,, . , • ... , r^- ,■ • r, ■ , verfahrenden Exegese, der Methode der Darstellung neutestamentlicher

Heder von Vertretern unterschied icher Diszplinen - ein Zeichen _ , . . ... „ . . , „., ,,, ,, „, t-. ,

K Theologie nach .Lehrbegntfen und der von Riischl beeinflußten Tneolo-

dalür, daß B., obwohl er in der theologischen Welt zur Zeit nicht gie - Das 2. Kap. thematisiert die theologischen Akzente im Werk der RS:

gerade en vogue ist, doch immer wieder Theologen aller Diszi- [, Die sog. „religionsgeschichtliche Methode"; 2. Das Interesse an der

plinen zur intensiven Beschäftigung mit seiner Theologie ani- Frömmigkeit des Volkes; 3. Die Neuentdeckung von Mythus und Ritus: 4.

mjerj 1 Die Unterscheidung von Religion und Theologie; 5. Geschichtsbild und

~ L .. , ~. ~ iL- /o v «uj- i historische Methode. Dieses Kap. schließt mit der Forderung der RS nach

2. Zunächst zur Dissertat.on von Gunnar Sinn (S.), Chr.stolo- ejn£r Umwandkmg der thei)|og4ne„ Disziplinen in historische. Sehr aus-

gie und Existenz. Der Untertitel präzisiert: Rudolf B.s Interpre- tuhrlich referiert S. im 4. Kap. Konzepte der Darstellung pauhmscher Chri-

tation des paulinischen Christuszeugnisses.- Der Autor behan- stologie innerhalb der RS (Wrede, Wernle, Weinel, Bousset, J. Weiß). Er

delt das Problem unter dem Gesichtspunkt der Herkunft B.s von zeigt, wie die einzelnen Vertreter der Schule sich jeweils zu folgenden Fra-

der Religionsgeschichtlichen Schule und seines allmählichen f" geäußert haben: 1 Das Verhältnis des Apostels Paulus zu Jesus und

..... ., _. . .. , . , der(n) ersten Gemeinde(n) - Die Frage nach dem Ursprung der Chnstolo-

Abruckens von ihr. Diese Distanz.erung gründet, wie er nach- gje; 2 Dje Umerscneidung von „Reilglon- und „Theologie- als Deutungs-

weist, in seiner theologischen Reflexion. modell zur Erschließung des paulinischen Denkens; 3. Die Funktion des

Das Problem der RS ist alles andere als gelöst. Gemeint ist Bekehrungserlebnisses des Paulus als Zugang zu seiner Christologie; 4.

mit dieser Feststellung nicht die inhaltliche Aussage über die Konzepte des Verständnisses der paulinischen Christologie und Soteriolo-

religionsgeschichtliche Umwelt des NTs, sondern deren Bedeu- «!* 5; Die Stellung der Rechtfertigungslehre bei Paulus und das Verstand-

. „ , , . . , , . , . , , ms seines Glaubensbeurills; 6. Die Bedeutung von Geist, Kultus und Sakra-

tung, besser: Bedeutsamkeit für das theologische Verstehen der menten zur Interpretation der paulinischen Christologie. Im Anschluß daran

ntl. Botschaft. Das hermeneutische Problem, das in der Fra- bring! er zusammenfassende Überlegungen zum Paulusbild der RS, zu ihren

gestellung der RS notwendig impliziert ist, ist von ihr selbst, Tendenzen und Problemen.

soweit überhaupt, nur in ersten Ansätzen verstanden worden. Mit dem 5. Kap. beginnt der 2. Teil des Buches, nämlich die Ausführun-

Daß mit ihrer Forderung nach der Darstellung einer urchristli- «en ■*« B und seine Theologie^Zentral für die Intention, die S mit seiner

_ . ... . . , , , , . i „ Darstellung verfolgt, ist bereits das 5. Kap., in dem es um B. als Mitglied

chen Religionsgeschtchte ein fundamentaltheologischer Pro- der RS in zweiter Generation gent Er schildert die Rezeption des religions-

_ geschichtlichen Ansatzes durch B„ aber hier auch schon die erste Distanzierung
vom theologischen (!) Konzept der RS durch die Problematisierung

1 Der hier gegebene Literaturbericht ist eine Fortsetzung von H. Hühner. des Religionsbegriffs. Ebenso bringt er B.s Bild von der Geschichte des
Rückblick auf das Bultmann-Gedenkjahr 1984. ThLZ 110 (1985), 641-652; Urchristentums und Aspekte seiner Deutung der paulinischen Christologie.
s. auch meine Rez. von Marlin Evang. Rudolf Bultmann in seiner Frühzeit ]n einem Anhang zu diesem Kap., das die „ontologischen Strukturen" in B.s
(BHTh 74). Tübingen 1988: ThLZ 114 (1989). 2l5ff. frühen Predigten thematisiert, kommt er auf den „geistesgeschichtlichen

2 Sinn, Gunnar: Christologie und Existenz. Rudolf Bultmanns Interpre- Hintergrund von B.s Theologie" (142) zu sprechen und korrigiert die übli-
tation des paulinischen Christuszeugnisses. Tübingen: Francke 1991. XIII, che Auffassung vom Einfluß der Philosophie Hei.s, indem er den zeitlich
306 S. 8° = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 4. ISBN davorliegenden Einfluß der Lebensphilosophie, vor allem Wilhelm Diltheys
3-7720-1883-1. aufzeigt.

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