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Ausgabe:

1995

Spalte:

203-218

Autor/Hrsg.:

Jaspert, Bernd

Titel/Untertitel:

Theologische Mystikforschung vor der Aufklärung 1995

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203 Theologische Literatur/eilung 120. Jahrgang 1995 Nr. 3 204

Bernd Jaspert

Theologische Mystikforschung vor der Aufklärung*

Gerhard-&wef4Maftftheim)-ztfm 65^ -Geburtstag

1. Einleitung

Seitdem es Mystik in der Religionsgeschichte der Menschheit
gibt, hat sie begeisterte Zustimmung hervorgerufen und viele
Menschen in ihrem Glauben geprägt. Sie hat aber auch heftige
Ablehnung erfahren. Wie in früheren Zeiten, so ist sie auch
heute noch weltweit und interreligiös ein umstrittenes Phänomen
. Diese Tatsache fordert Forscherinnen und Forscher auf
Gebieten wie Religionswissenschaft, Theologie, Philosophie.
Geschichte, Philologie und Psychologie dazu heraus, die
Mystik als ein Urphänomen menschlichen Seins quer durch
mehrere Epochen, Mentalitäten, kulturelle und religiöse Paradigmata
in ihren Ursachen, Erscheinungsformen und Wirkungen
/.u untersuchen.

Gerade ihr Umstrittensein einschließlich der Frage, was denn
Mystik überhaupt sei, verlangt differenzierte Untersuchungen
nach verschiedenen Gesichtspunkten. Ein Aspekt könnte die
Frage sein: Wie ist das Phänomen Mystik im Christentum zu
begreifen? Da das Christentum mit seinen vielen Facetten in
seiner heutigen Gestalt nur verstehen kann, wer die Geschichte
kennt, die zu dieser Gestalt geführt hat, ist die Antwort auf die
Frage nach der Mystik im Christentum zunächst einmal auf
theologisch-historischem Wege zu suchen. Erst dann kann man
sagen, welche Bedeutung die Mystik im heutigen Christentum,
wie es sich in der Ökumene zeigt, hat.

Innerhalb des Christentums gibt es eine theologische Mystikforschung
spätestens seit dem 17. Jh. Ihre Methoden und Ergebnisse
sind vielfältig und müssen als Beiträge zur allgemeinen
Theologie- und Kirchengeschichte verstanden werden.
Obgleich die Mystik ein wesentlicher, zu verschiedenen Zeiten
allerdings unterschiedlich starker Faktor und Impuls des spirituellen
Lebens der Kirchen und konfessionellen Gemeinschaften
der Ökumene war, ist sie in ihrer geistlichen Tiefe, Breite und
Kraft als Forschungsgegenstand bis heute von evangelischen
Theologinnen und Theologen nur wenig beachtet worden.
Innerhalb der evangelisch-theologischen Ausbildung an deutschen
Hochschulen spielt die Mystik im Fach Kirchengeschichte
nur eine marginale Rolle. Das ist um so erstaunlicher, als es
bereits im 17./18. Jh. neben der katholischen Mystikforschung
auch bemerkenswerte Ansätze in der protestantischen Theologie
gab, deren Ergebnisse in Kompendien zugänglich waren,
die in einigen Fällen sogar zu Bestsellern der zeitgenössischen
theologischen Literatur wurden.

Nach der gesellschaftlichen Neuorientierung in Europa durch
die Französische Revolution und dem Schock der Aufklärung auf
theologisch-spirituellem Gebiet im 19. Jh. an die frühere
Mystikforschung einfach anzuknüpfen, schien offenbar nicht
möglich zu sein. Dafür gab es mehrere Gründe. Der wichtigste
dürfte die Rationalisierung der Theologie gewesen sein. Aul dem
Gebiet der Kirchengeschichte hatte sie in der ersten Hälfte des
19. Jh.s in Ferdinand Christian Baur (1792-1860) und in der
zweiten Jahrhunderthälfte in Albrecht Ritsehl (1822-1889) ihre
einflußreichsten Vertreter. Die alte, noch vor Kants „Kritik der
reinen Vernunft" (1781) von Christoph Matthäus Pfaff (1686-
1760) in Tübingen und Johann Lorenz von Mosheim (1693-
1755) in Göttingen in die Kirchengeschichtsschreibung eingeführte
pragmatisch-motivgeschichtliche Methode1 wäre zur Erforschung
mystischer Phänomene geradezu ideal gewesen. Aber
spätestens seit Immanuel Kant (1724-1804) und den ihm folgenden
Aufklärungstheologen war die Mystik als ein „Unding der
Möglichkeit einer übersinnlichen Erfahrung"2 derart in Verruf
geraten, daß sie noch Anfang des 19. Jh.s als „philosophia falsa

et fanatica"3 diskreditiert werden konnte - und das trotz des kräftigen
Auftriebs, den die Mystikforschung infolge der Neuentdeckung
des Mittelalteis durch die Romantiker Ende des 18. Jh.s
erlebte. Für Kant war Mystik „eine gewisse Geheimlehre..., welche
das gerade Gegenteil aller Philosophie ist" und sich „aller
Arbeit vernünftiger... Naturforschung" entzieht.4 Die kritische
Erkenntnis der Welt und ihres Wesens kann eine solch unvernünftige
Erfahrungsichre wie die Mystik nicht akzeptieren.

Selbst Johann Gottfried Herder (1744-1803), der noch vom
spätromantischen Tauler- und Seuse-Forscher und nachmaligen
Fürstbischof von Breslau Melchior (von) Diepenbrock (1798-
1853) wegen seines mystiknahen Erfahrungsbegriffes als ein
positiver Zeuge der Mystik gelobt wurde5, übte Kritik an ihr. So
warnte er 1780/81 die Leser seiner „Briefe das Studium der
Theologie betreffend": „Hüten Sie sieh vor dem heißen Schwefelbade
des Mystizismus, der in alleren und neueren Zeiten seinen
dumpfen, erstickenden Nebel auch über... die lebendigsicn.
blühendsten Lehren des Christentums ausgebreitet hat. Aus der
Thebaischen Wüste ist der zehrende, erstickende Ostwind
gekommen, nicht vom Himmel, nicht vom Geiste des Lebens.
In die Wüste gehört er auch."6

Die Verwirrung, die um die Wende des 18 /19. Jh.s, vor
allem unter evangelischen, aber auch katholischen Theologen
herrschte, zeigte sich darin, daß der Begriff Mystik oder Mystizismus
jetzt geradezu als theologisches Schmäh- und SpOttWOfl
gebraucht wurde. Damit sollte der jeweilige theologische Gegner
getroffen werden. Was die Vernunft überstieg, wurde als
nicht intelligibel in das Reich des Aberglaubens verwiesen.' So
meinte der evangelische Vermittlungstheologe Carl Immanuel
NitZSCh (1787-1868), man habe das Wort Mystik oder Mystiker
einerseits „in gleicher Bedeutung wie Schwärmer und Fanatiker
gebraucht, anderseits als Grenzpfahl für das Reich des alltäglichen
Verstandes gegen jede Lehre ausgesteckt, welche von
einer objektiven Wahrheit, von einem immanenten Denken,
oder von der Unmittelbarkeit der göttlichen Wirkungen und
Mitteilungen weiß, so daß wenig fehlt, daß nicht nur Herder,
Hamann, Claudius, sondern auch Lessing, ja Kant und Fichte
zu argen Mystikern werden."8

Die Vermittlungsposition, wie sie Nitzsch verlrat, konnte
jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Myslikkritik der
Aufklärer grundsätzlicher Art war. Dies veranlaßte den aus dem
Romantikerkreis Brentanos, Sendlings und Günthers kommen-

1 Vgl. Bernd Jaspert. Hermeneutik der Kirchengeschichte (1989), in:
ders., Theologie und Geschichte. Ges. Aufsätze, Bd. I (EHS XXIII/369).
Prankfun B.M. 1989 (= ThGe I), 19-77.

- Vorrede ZU Reinhold Bernhard Jachmann. Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie
in Hinsicht auf die ihr beygelegte Ähnlichkeit mit dem reinen
Mystieismus (I8(X)). in: Immanuel Kant. Samtliche Werke. In chronologischer
Reihenfolge hg. v. Gustav Hartenstein. Bd. 8. Leipzig 1868. 661.

* Joseph von Görres. Die christliche Mystik. Bd. I, Regensburg 21879.
III.

4 Wie Anm. 2.

5 Vgl. Vorhericht des Hg.s, in: Melchior Diepenbrock [Hg.], Heinrich
Suso's. genannt Amandus. Leben und Schriften. Nach den iiitesten Handschriften
und Drucken mit unverändertem Texte in jetziger Schriftsprache.
Mit einer Hinleitung von J(oseph) Görres. Regenshurg 1829. V-XXIV.

6 Briefe das Studium der Theologie betreffend, 4 Tie., Weimar 1780-
1781. in: Johann Gottfried Herder, Sämmtliche Werke, hg. v. Bernhard Sup-
han, Bd. X. Berlin 1879 (Nachdruck Hildesheim 1967), 357.

7 Die entsprechende zeitgenössische Literatur nennt Julius August Ludwig
Wegscheidel Inslitutiones theologiae christianae dogmaticae. Halle
1815 (8. erw., verb. Aull. Leipzig 1844), 23-25.

x Carl Immanuel Nitzsch. System der christlichen Lehre. Bonn 41839, 32.