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Ausgabe:

1995

Spalte:

188-190

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Titel/Untertitel:

Die Entzauberung des Politischen 1995

Rezensent:

Bukow, Wolf-Dietrich

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Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 2

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die Kirchenmitgliedschaft unter DDR-Bedingungen sehr viel
näher am Ideal einer .eigentlichen' Kirche als Gemeinde Jesu
Christi gewesen sei, ausgeprochen interessante Ergebnisse und
wichtige Einsichten angeboten, die an dieser Stelle nur angekündigt
, aber nicht näher dargelegt werden können. Sie
erscheinen geeignet, nostalgischen (Vor-(Urteilen zu begegnen
und Legendenbildungen vorzubeugen. Daß dies möglich wurde,
ist nicht zuletzt dem pragmatisch-vernünftigen Vorgehen des
Autors zuzuschreiben, der sein Untersuchungsinstrumentarium
zum weit überwiegenden Teil aus seinerzeit „westlichen" Studien
übernommen hat. Von daher sind Vergleiche möglich; vor
allem aber die Feststellung, daß auch eine Kirchenmitgliedschaft
unter DDR-Bedingungen sehr viel stärker volkskirchliche
Bewußtseins- und Verhaltensstrukturen aufwies, als das
manchem Gemeindeaufbau-Apologeten bewußt war oder gar
lieb sein mag. Summa summarum: Das Kennzeichen dieser Arbeit
liegt sowohl in der Verläßlichkeit ihres empirisch-instru-
mentellen Designs und damit im Umarbeiten des Stands der
einschlägigen Forschung auf DDR-Verhältnisse, als auch darin,
daß sie von einem „gelernten" DDR-Bürger und Kirchenmitglied
erarbeitet wurde. Dieser wäre aufgrund seiner Biographie
sicherlich in der Lage gewesen, spätestens bei der Durchführung
dieser Arbeit eine eventuell zu befürchtende Unangemes-
senheit der Fragestellung und des Meßinstruments zu erkennen,
wenn eine solche denn vorgelegen hätte. Für Authentizität des
Urteils ist also gesorgt.

Braunschweig Andreas Feige

Höhn, Hans-Joachim: Gegen-Mythen. Religionsproduktive
Tendenzen der Gegenwart. Freiberg-Basel-Wien: Herder.
1994. 150 S. 8° ■ Quaestiones disputatae, 154. Kart. DM
38,00. ISBN 3-451-02154-4.

„Das Vorhaben, den Ort und die Funktion von Religion in
modernen Gesellschaften zu bestimmen, wird immer mehr zu
einer Aufgabe, zwei unbekannte Größen zueinander in Beziehung
zu setzen." (5) Mit diesem, auf Ziel und Problematik seines
Unternehmens hinweisenden Satz beginnt Hans-Joachim
Höhn, Professor für Systematische Theologie an der philosophischen
Fakultät der Universität zu Köln, sein Vorwort zum
vorliegenden Buch.

Mit soziologischen und religionspsychologischen Kategorien
beschreibt H. die Gefährdungen und Herausforderungen moderner
, städtisch geprägter Industriegesellschaften und ihre Auswirkungen
auf das Selbst- und Weltverständnis der in ihnen
lebenden Menschen. Sein Ausgangspunkt dabei ist das Mit- und
Gegeneinander von Säkularität und Religiosität in der modernen
„Risikogesellschaft". Die Säkularität der Moderne ist von
ihrer eigenen Dynamik eingeholt worden, „nachdem die neuzeitliche
Wissenschaftsgläubigkeit elementaren Zweifeln an
ihrer Zukunftsfähigkeit gewichen ist". (13) Das Stichwort
„Risikogesellschaft" markiert einen „Kontinuitätsbruch der
neuzeitlichen Sozialgeschichte", der dort offensichtlich wird,
„wo die Kosten des industriellen Fortschritts den bis dato errungenen
Wohlstand aufzehren, wo ökonomische Gewinne ökologisch
entwertet werden und die durch die Modernisierungsdynamik
hervorgetretenen Risiken sich zunehmend" - aufgrund
ihrer Komplexität und Globalität - „den Kontroll- und Siche-
rungseinrichtungen der Industriegesellschaft entziehen". (22)
Mit großem Erfolg wurden die Mittel von Wissenschaft und
Technik eingesetzt, um die Bedrohungen durch Naturvorgänge
aller Art zu verringern. Dennoch hat der moderne Mensch wieder
zunehmend Angst: kaum noch vor der natürlichen Natur,
dafür aber „vor den Bedrohungen, die von der vergesellschafteten
Natur ausgehen". (31) Die Folge dessen ist ein neues Ansteigen
von Kontingenz- und Abhängigkeitserfahrungen, deren
Bewältigungsversuche neue religionsproduktive Tendenzen
zeitigen. Aber: Sie bleiben zumeist ohne Bezug zum traditionellen
christlichen Kontext.

Wie Kirche und Theologie sich auf diese H. zufolge durchaus
selbst- bzw. mitverschuldete Situation im Interesse der Einzelnen
und der Gesellschaft einstellen können und müssen, ist das
Anliegen seiner Schrift. Denn: „Einen Ausweg aus dem Dilemma
, in das die Risikogesellschaft geführt hat, gibt es nicht bei
einem Verzicht auf Rationalität oder durch die Stiftung eines
neuen Mythos... Die Moderne ist nicht reversibel... Wer sie
überbieten will, muß erst einmal ihr Anspruchsniveau erfüllen.
Mit der Rückkehr der Magier und Schamanen ist dem Menschen
auf Dauer nicht gedient" (27), zumal dann nicht, wenn
die vielen Spielarten der sogenannten „City-Religion" nur jene
Strukturen nutzen und reproduzieren, die für das Dilemma der
„Risikogesellschaft" mitverantwortlich sind. Gefragt ist dagegen
„eine Umgangsform mit den Unverfügbarkeiten des Lebens
, die sich zur progressiven Expansion technisch-industrieller
Handlungsmöglichkeiten indifferent verhalten und somit
nicht von dieser oder für die Ausdehnung menschlicher Verfügungsmacht
instrumentalisiert werden können." (32)

Dazu aber muß sich die Kirche vor allem auch den Herausforderungen
der Urbanität - z.B. der „Passantenmentalität" und
Extrovertiertheit der Städter - endlich positiv stellen. In diesem
Sinne sieht Höhn das „Christentum am Ende der Moderne"
weniger in einer Tradierungskrise, denn eher in einer Innovationskrise
.

Leipzig Annette Weidhas

Pollack, Detlef, Findeis, Hagen, u. Manuel Schilling: Die Entzauberung
des Politischen. Was ist aus den politisch alternativen
Gruppen der DDR geworden? Interviews mit ehemals
führenden Vertretern. Leipzig: Evang. Verlagsanstalt:
Berlin: Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Forschung
1994. 318 S. 8«. Kart. DM 29,50. ISBN 3-374-01522-0 u. 3-
929666-07-3.

Wer sich für die Geschichte der alternativen Gruppen der DDR
und deren Wandel zur heutigen Bürgerbewegung interessiert,
der wird schnell feststellen, daß es darüber kaum Arbeiten gibt.
Es besteht ein auffälliges Mißverhältnis zwischen der Bedeutung
, die diesen Gruppen vor und während der Wende zugesprochen
wurde, und der Bedeutung, die man ihnen heute im
politischen Alltag genauso wie innerhalb der zeitgenössischen
Forschung zugesteht. Offenbar gilt noch immer: „Der Mohr hat
seine Schuldigkeit getan".

Doch gilt dieser sich schnell aufdrängende erste Eindruck
wirklich? Es ist sicherlich das Verdienst der vorliegenden Studie
, etwas Licht in dieses Dunkel gebracht zu haben. Die Studie
geht in mehreren Schritten vor. Ulrike Franke versucht zunächst
einmal, etwas Transparenz in die Geschichte der alternativen
Gruppen seit ihren Anfängen zu bringen. Für das Verständnis
dieser Gruppen ist wichtig, zu sehen, daß sie sich gewissermaßen
in einer doppelten Klammer bewegten. Anders als in der
alten Bundesrepublik entstandenen die Gruppen nicht als Teil
von Öffentlichkeit, sondern unter dem Dach einzelner Kirchengemeinden
innerhalb der Kirche. Deshalb erscheinen alle ihre
Aktivitäten „vermittelt". Dahinter verbirgt sich offenkundig
eine - leider nicht weiter analysierte - Gesellschaftsstruktur, die
zum einen extrem patemalistisch arbeitet und die zum anderen
keine bürgerliche Öffentlichkeit kennt. Auf diese Weise hatten
die Gruppen gleich ein dreifaches Problem: Erstens mußten sie
sich innerhalb einer Kirchengemeinde arrangieren. Zweites
mußten sie sich auf die Kirche als Institution einlassen. Und