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Ausgabe:

1995

Spalte:

181-183

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Zijlstra, Wybe

Titel/Untertitel:

Handbuch zur Seelsorgeausbildung 1995

Rezensent:

Nicol, Martin

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181

Theologische Literaturzeitung 120. Jahrgang 1995 Nr. 2

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Bowlby und deren Rezeptionsgeschichte referiert. Wichtig sind
ihm vor allem das Bindungs-Verhalten, die beteiligten Personen
, deren Funktionen. Auf diesem Hintergrund erscheint Gott
als Kompensations-Figur für Bindungs-Erfahrungen, bei Freud
eindeutig auf den Vater, in den Untersuchungen von Kirkpa-
trick 1988 auf Vater und Mutter bezogen, wahrend Nelson und
Johns 1957 behaupten, daß das Gottesbild mit dem vom Kind
bevorzugten Elternteil korreliere.

Der Vf. entwickelt nun eine Reihe von Postulaten. in jeweils
antithetischen überprüfbaren Hypothesen ausformuliert, die er
aus der Theorie Bowlbys ableitet und später im einzelnen auf
Jas vorliegende Material bezieht: Gott kann als Ersatz für ungenügend
ausgebildete Bindung eintreten - zu überprüfen ist,
ob Menschen mit einer unsicheren Bindungsbeziehung die gleiche
Voraussetzung für eine Bekehrung aufweisen wie diejenigen
mit einer befriedigenden Bindung, oder aber (Gegen-Hypo-
these) eine höhere. Eine andere Frage ist (um nur Beispiele zu
nennen), ob eine höhere Wahrscheinlichkeit religiöser Bekehrung
vorliegt, wenn Krisis- oder Spannungs-Erfahrungen vorausgehen
, oder ob das nicht der Fall ist. So werden einzelne
Momente der Bindungstheorie in ihrer Anwendung auf die Bekehrung
anhand von 18 Untersuchungen zwischen 1902 (W.
James) und 1988 (D. M. Neuhaus) durchbuchstabiert im Hinblick
auf die Beziehung zwischen Lebens-Krise und Bekehrung
, die Beziehung zwischen Suche nach positiver Bindung
und mystischem, affektivem, intellektuellem, experimentellem
Motiv für Bekehrung.

Einige Resultate (achtes Kapitel): Bowlbys Theorie erweist
sich als hilfreich, die religiöse Bekehrung besser zu verstehen.
Es besteht tatsächlich höhere Wahrscheinlichkeit für eine Bekehrung
im Fall derjenigen, die eine unsichere Elternbeziehung
in der Kindheit hatten. Gott kann in diesem Fall ersatzweise als
Beziehungsfigur eintreten und den Mangel an Liebe aus der
Kindheit kompensieren. Gelegentlich können eine religiöse
Gemeinschaft oder ein Individuum, das für diese Gemeinschaft
steht, die Funktion einer Anlaufstelle in diesem Sinn haben.
Eine höhere Wahrscheinlichkeit besteht für religiöse Bekehrung
auch dann, wenn Krisen- oder Spannungserfahrungen vorausgegangen
sind und eine Suchhaltung vorhanden ist. Forscher,
die in ihrer eigenen Anthropologie den Menschen als sinnsuchend
beschreiben, neigen zu Bekehrungslheorien; diejenigen
, die den Menschen passiv sehen, erwarten weniger aktive
Suchbewegungen mit Bekehrung, sondern behaupten, daß Bekehrungen
von äußeren Faktoren bestimmt seien - so wirkt die
Einstellung des Untersuchenden auf die Fragestellung und
damit indirekt auf das Ergebnis ein.

Die Arbeit O.s ist in ihren gut gesicherten Teil-Ergebnissen
interessant, in der Art des Umgangs mit älterem empirischen
Material anregend und in ihrer kritischen Retrospektive auf die
gehandhabte Methodik, die aus den sich zeigenden Defiziten
weiterführende Kriterien gewinnt, für die Forschung wichtig
und hilfreich.

München Hans-Jürgen Kraas

Zijlstra, Wybe: Handbuch zur Seelsorgeausbildung. Aus

dem Niederl. von R. Miethner. Gütersloh: Kaiser/Gütersl.
Verlagshaus 1993. 416 S. gr.8". Pp. DM 128.-. ISBN 3-579-
02062-5.

Das Ziel dieses „Handbuches" ist ein dreifaches (151.): Es soll
(a) dem Gespräch zwischen Theologie und Psychologie einen
Impuls verleihen, (b) Menschen, die Seelsorge üben, berufsnotwendige
Informationen bieten und (c) allen, die geistig verunsichert
sind. Orientierung geben für ihre Suche nach Zukunft.

Ein erster Teil entwickelt „Grundstrukturen des menschlichen
Seins", eine Art von philosophischer Anthropologie. Dabei
wird das menschliche Leben beschrieben als ein ständiges Wachsen
im Spannungsfeld von Polaritäten, wie sie im Menschsein
angelegt seien: „Selbst und Welt", „Begehren und Schul-
digsein", „männlich und weiblich", „Existentialität und Objektivität
" (28). In diesem ersten Teil kommt einiges an psychologischem
Grundwissen zur Darstellung. Vor allem C. G. Jung
wird für die Strukturen seelischen Erlebens herangezogen. Erik-
son sehr stark für die Entwicklungsphasen des Individuums.

Der zweite Teil stellt die Neurose dar als eine Störung, bei der
dieses spannungsvolle Wachsen ins Stocken gerät. Die Gründe
für neurotische Entwicklungen sind weitgestreut und keineswegs
allein auf Störungen in Kindheit und Jugend zurückzuführen
. In allen Lebensphasen sei solche „Entfremdung vom
eigenen Selbst" (217) zu konstatieren. So könne es durchaus
auch noch im Blick auf sog. „letzte Fragen" zu neurotischen
Verdrängungen kommen (117). Näherhin wird eine „Kernneu-
rose" angenommen, die in einer Kommunikationsstörung innerhalb
der Grundpolarität von Selbst und Welt bestehe (123). Diese
Kernneurose wird nach den Riemannschen Kategorien (vgl.
Grundformen der Angst) in vier Subformen aufgefächert.

Im dritten Teil wird „religiöse Erfahrung" religionspsychologisch
bestimmt. Es handle sich um diejenige Erfahrung, in welcher
der Mensch „in seiner Totalität als kommunikatives Wesen
" (263) mit einer Dimension konfrontiert wird, die nicht in
ihm selbst zu suchen ist (255). Die Formen neurotischer Pervertierung
solcher Erfahrung ergänzen diesen Teil.

Der letzte Teil zeichnet auf dem Hintergrund eines epochalen
kulturellen Umbruchs, der unsere Gegenwart bestimme, den
christlichen Glauben als eine zutiefst moderne Form von Religiosität
. Er sei „beziehungshaft, dynamisch-qualitativ und holi-
stisch" (396) und entspreche damit dem, was sich als „funktionale
Phase" der Kultur langsam gegen die noch immer herrschende
„ontologische Phase" abhebe. „Funktional" (vgl. C. A.
van Peursen) heißt, daß einzelne Phänomene nur aus dem Netzwerk
ihrer vielfältigen Beziehungen verstanden werden können;
ontologisch-substanzhafte Deutungen werden obsolet. Für den
christlichen Glauben bedeutet das. daß er, wie es die neuere
Theologie ja auch weithin annehme, von einer „Wahrheit als
Begegnung" her zu konzipieren sei (398). Kirche und Theologie
hätten dieser zukunftsweisenden Konzeption von Glauben
weit konsequenter Raum zu geben als bisher (399. 406).

Ungeachtet mancher Zustimmung im einzelnen muß ich hier
Probleme notieren, die das Werk als ganzes betreffen. Schon
von der verlegerischen Seite her läßt das Buch zu wünschen
übrig. Warum wurde der ursprüngliche Untertitel der niederländischen
Ausgabe (1989) zum Haupttitel befördert, damit suggerierend
, es handle sich wirklich um ein „Handbuch" - ein Buch
also, das man in die Hand nimmt, um dies oder jenes nachzuschlagen
? Dem stehen eine ganze Reihe von Hindernissen im
Wege: Das Buch enthält weder Personen- noch Sachregister,
bei vielen Literaturangaben fehlen die Erscheinungsjahre, das
Druckbild ist einförmig, ohne Hervorhebung etwa von Autoren.
Für die deutsche Leserschaft wäre ein Hinweis auf den Autor
und besonders auf seine Pionierleistung für die Seelsorgebewegung
in Europa unerläßlich gewesen. Ob die den Abschnitten
jeweils beigegebene „Literatur zur Vertiefung" vom Verlag ausgewählt
wurde, ist nicht klar. Es steht aber zu vermuten, da diese
Literaturangaben mit den Ausführungen des Autors in der
Regel nichts zu tun haben, sondern allenfalls auf Punkte aufmerksam
machen, deren Bearbeitung man im Text vermißt. Es
kommt hinzu, daß auch die Ausführungen des Autors nicht
wirklich informativ im Sinne eines „Handbuchs" sind. Die Auswahl
der referierten Positionen ist zu selektiv: Wo bleibt etwa
Viktor Frankl, wenn die Neurose schon als eine „anthropologische
Krankheit" bestimmt wird? Bibliographisch-zeitgeschicht-