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Ausgabe:

1993

Spalte:

171-173

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Vahanian, Gabriel

Titel/Untertitel:

L'utopie chrétienne 1993

Rezensent:

Lienhard, Fritz

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 2

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sung durch die Bildung der Person des Deus incarnatus zu reden
? Beruht nicht die innere Logik der Inkarnations-Christolo-
gie auf der - aus der Erkenntnistheorie abgeleiteten - Voraussetzung
, Gott könne nur sich Gleiches (erkennen und) annnehmen
? Kann Gott aber nicht vielleicht auch ganz Fremdes erkennen
und lieben? Meinen wir das nicht, wenn wir von der
Versöhnung sprechen?

Vielleicht wollen die Kritiker der Inkarnationslehre auch aus
solchen Erwägungen die Erlösung nicht mehr an die Einwoh-
nung des Logos in einen Menschen binden, sondern gerade hier
lieber vom Ruhen des Heiligen Geistes auf Jesus reden. Über
die Konsequenzen ist in der Theologiegeschichte noch nicht
genügend nachgedacht worden, es bleibt unsere Aufgabe. Es ist
interessant, daß sich Sturch mit seinem analytischen Besteck
zumindest für das Reden von Gottes Offenbarung daran beteiligen
will.

Heidelberg Ulrike Link-Wieczorek

Vahanian, Gabriel: L'utopie chretienne. Paris: Desclee de
Brouwer 1992. 329 S. 8». Kart. fFr 128.-.

Vahanians Buch »L'utopie chretienne« ist eine Aufsatzsammlung
. Ihre einzelnen, gegenüber der ursprünglichen Fassung oftmals
stark veränderten Beiträge sind charakteristisch für die
Themen, die den Autor schon seit ein paar Jahren beschäftigen.
Sein Ziel in diesem Buch ist es, die „christliche Utopie" zu erläutern
, die sich in der Technik ausdrückt und in der Sprachlichkeit
des Menschen (und Gottes) ihren Horizont findet (14).

Statt im Rahmen dieses Berichtes den verschiedenen Artikeln
nachzugehen, ist es, um das Buch einem deutschsprachigem
Publikum bekannt zu machen, besser, seine einzelnen
Themen kurz zu beschreiben.
Von einer Religion zur andern:

V. ist einst bekannt geworden durch sein Buch „Der Tod
Gottes" (1961). Er versuchte damals, das kulturelle Phänomen
des Bedeutungsverlustes des christlichen Glaubens zu beschreiben
. Für ihn ging es letztlich nicht um ein Aussterben, sondern
um einen „Paradigmawechsel" der menschlichen Religion. Der
heutige Mensch ist von einer sakralen Religion zu einer „utopischen
" übergegangen. Was bedeutet das?

Die sakrale Religion wird von V. als eine Heilsreligion beschrieben
. Sie besteht darin, daß sie den Menschen die Möglichkeit
, in eine andere Welt zu flüchten, verspricht. Sie beruht
auf einer Ablehnung der Welt, wie sie sich gibt (37). So hat
sich auch das Christentum lange als eine Opferreligion gegeben
, die dem Menschen ein Jenseits anbietet und von ihm eine
Weltverneinung verlangt.

Diese Religion entspricht aber nicht der biblischen Botschaft.
In der Bibel ist das Heil nicht für das Jenseits. Gott ist das Heil
(Ps 27). Es hängt also nicht von einer weltverneinenden Askese
ab. Es hat kein anderes Feld als die Welt (115). Dazu muß man
sehen, daß die Bibel nicht von Sakralität (sacre) spricht, sondern
von Heiligkeit (saintete). Diese Heiligkeit ist ein ethischer
Begriff und muntert den Menschen als solchen auf, die Welt zu
verändern. Dagegen ist die Sakralität, die einen sakralen Raum
schafft, nicht auf Weltveränderung bedacht. Sie dient im Gegenteil
dazu, die Welt in ihrem Bestand zu erhalten und ihre
Hierarchien zu „sakralisieren" (92).

Der Tod Gottes ist das von dem Christentum selbst hervorgerufene
Ende dieser sakralen Religion. Die Sprachlichkeit des
Menschen, die von dem Christentum valorisiert wird, findet
ihren Ausdruck in der Technik. Diese Technik entsakralisiert
die Welt. Daher ist das technische Denken der eigentliche
Anstoß der religiösen Krise unserer Welt. In Anbetracht der
Technik ist eine sakrale Religion unmöglich geworden.

Die christliche Religion muß sich also nach einem anderen -
nach ihrem eigenen! - Paradigma richten. Sie muß sich an der
Utopie orientieren.Die utopische Religion versucht nicht, von
einer Welt in eine andere zu flüchten, sondern besteht darin,
daß sie versucht, die Welt zu verändern (»eile ne change pas de
monde, mais eile change le monde«). Diese Religion entspricht
auch der eigentlichen Botschaft des Christentums, die von
einem Gott spricht, der die Welt nicht verneint, sondern „liebt".
Von dieser Botschaft aus muß gesagt werden, daß das Christentum
von sich aus keine sakrale Religion und daher keine
Heilsreligion ist. Es verspricht keine Flucht vor der Welt, sondern
sieht die Welt als den eigentlichen Bewährungsort des
Glaubens, als Liebe (89). Das Christentum bejaht die Welt.

Dabei ist Gott ort-los und deswegen ist er die Quelle jeder
Utopie (92). Deswegen ist die Utopie die Denkform, die dem
Christentum entpsricht.

Utopie: Mit dem Begriff „Utopie" will V. in einem Wort die
Ortlosigkeit Gottes und des Menschen einerseits, ihre gemeinsame
Zukunftsträchtigkeit andererseits zur Geltung bringen.
Die Ortlosigkeit und die Zukunftsträchtigkeit von Gott und von
dem Menschen drückt sich aus in ihrer gemeinsamen Sprachlichkeit
. Als Ortlosigkeit schließt die Sprachlichkeit jede Macht
als Unterdrückung aus. Jede Unterdrückung schließt nämlich die
Sprache aus und ist daher zur Sakralisierung geführt (235). Die
Utopie der Sprache entzieht dieser Unterdrückung wörtlich den
Boden unter den Füßen, weil sie jeden Menschen ortlos macht.

Als Logos ist Christus die Ortlosigkeit sowohl des Juden wie
des Griechen, des Menschen sowie Gottes: So daß jeder entmachtet
ist und „nichts mehr zu teilen hat, außer Gott: alles"
(238).

Die Sprachlichkeit Gottes und des Menschen: Ortlos und
sprachbegabt geht der Mensch immer über den Menschen hinaus
und Gott immer über Gott. Was Gott betrifft, heißt das, daß
er nicht mit dem Sein verbunden ist, sondern mit der Sprache
(„und der Logos war Gott..."). Was den Menschen betrifft, öffnet
dieser Sachverhalt die Tür zur Technik.

Das Christentum macht mit der Sprache ernst. Das zeigt sich
schon im AT, wenn die Schrift den Menschen von der Torah
her bestimmt. Die Torah ist von sich aus Sprache, ist viel mehr
als eine Sammlung von Tabus und Verboten. In der Sprache
stellt sich Gott in Frage. Dabei behauptet er die Menschlichkeit
des Menschen und will darin als göttlich erkannt sein.

Die Sprachlichkeit ist dem Menschen und Gott gemeinsam.
Sie setzt den Glauben jenseits von Natur und Geschichte. Sie
bringt ihn in Beziehung mit der Technik. Die Technik ist diese
Sprache des Menschen, die ihm seine Ortslosigkeit am deutlichsten
vor Augen stellt. Die Technik zwingt ihn daher immer
dazu, von nichts auszugehen (22).

Die Technik als Sprachereignis: Von diesen Voraussetzungen
aus ist das Gespräch über die Technik für den Theologen
unerläßlich. Die Technik „ist das Anliegen des Jahrhunderts".

Die Technik spricht von der Ortlosigkeit des Menschen und
von der Herausforderung, die der Mensch für sich selbst ist. Sie
spricht von seiner Zukunftsträchtigkeit. So sagt V.: „Mit einem
Hammer in der Hand ist der Mensch schon nicht mehr, was er
war. Der Hammer vergrößert nicht nur seine Wirksamkeit, indem
er seine Kraft vermehrt, er verändert nicht nur seine äus-
serlichen Lebensbedingungen, sondern er verändert seine Wirklichkeit
im intimsten" (54).

So ist die Technik als Sprachereignis von dem Theologen zu
erörtern. Sie ist kein Gebiet, das der Religion fremd gegenübersteht
. Sie gehört ursprünglich zum Gegenstand der Theologie.

Fazit: Die Gedanken von V. sind immer anregend. In einer
sehr schönen, etwas spielerischen französischen Sprache ausgedrückt
, bewegen sie sich auf Gebieten, in denen Theologen
momentan noch nicht sehr bewandert sind. V. öffnet daher neue
Wege, auch wenn er sie nicht immer selbst zu Ende geht.