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Ausgabe:

1993

Spalte:

169-171

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Sturch, Richard

Titel/Untertitel:

The word and the christ 1993

Rezensent:

Link-Wieczorek, Ulrike

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169

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 2

170

Sturch, Richard: The Word and the Christ. An Essay in Ana-
lytic Christology. Oxford: Clarendon Press 1991. IX, 292 S.
8». Lw. £ 35.-. ISBN 0-19-826198-5.

Unbeirrbar halten anglikanische Gläubige seit mehr als 150
Jahren daran fest: Das feierliche Preisen des Ereignisses der
Inkarnation ist der Mittelpunkt des Gottesdienstes und somit
auch der Gegenstand der Christologie. Immer wieder wurde in
der Theologie kontrovers und interkonfessionell darüber diskutiert
.

Auch Ende der 70er Jahre unseres Jahrhunderts gab es eine
solche Debatte. Neue Zweifel hatten sich aufgetan: Im Kontext
des größeren Zusammenrückens der Weltreligionen wirkten die
Christen „provinziell" und arrogant, wenn sie weiterhin behaupten
, Gott habe sich einzigartig in Jesus Christus inkarniert (John
Hick). Überhaupt sei ein so direktes Eingreifen Gottes in die
Geschichte heute nicht mehr denkbar (Maurice Wiles). Wird
eine solche Vorstellung von Gottes Handeln auch noch - wie in
der Inkarnations-Christologie - mit der Rede von Offenbarung
verbunden, dann verleite sie auch zum falschen Reden von
Gott, das zur Identifikation von Gott und Weltlichem führe.
Christen hätten sich angewöhnt, den Satz „Jesus ist Gott" wie
eine umkehrbare Gleichung zu verstehen (Don Cupitt). Auch
die Erklärung, es handele sich dabei um eine paradoxale Aussage
, befriedige nicht (Michael Goulder). In der Konsequenz wirke
schließlich auch im Verständnis der Versöhnung eine ähnlich
falsche, nämlich eine rassistische und sexistische Identitätslogik
: durch den einzigartigen weißen Mann Jesus könnten nur
weiße Männer wirklich Hoffnung auf Erlösung entwickeln
(Tom Driver, USA).

Diese und weitere Einwände gegen eine klassische Inkarnations
-Christologie, systematisiert nach ihren wissenschaftstheoretischen
Implikationen, stellt Richard Sturch im ersten Drittel seines
Buches zügig und temperamentvoll so dar, als seien sie seine
eigenen. Aber das eigentliche Ziel seiner Arbeit ist es, ihre Anliegen
, soweit als berechtigt erwiesen, in die klassische Christologie
zu integrieren. Das ist „analytische" Christologie. Das
theologische und methodische Vorbild ist die Summa Theolo-
giae von Thomas von Aquin (5). Dort, wo traditionelle Theorien
im Lichte der Einwände unzureichend befunden werden, soll
geprüft werden, ob sie modifiziert werden könnten, ohne den
Korpus der Inkarnations-Christologie verändern zu müssen.
Eben dieses letzte halten die in Kap. 1-5 zu Wort gebrachten
Autoren für unmöglich, und diese grundsätzliche Differenz
durchzieht implizit das ganze Buch. Sturch will die Rede von
der Inkarnation weder „revisionistisch" beiseiteschieben, noch
„proklamatorisch" auf ihr Neues aufbauen (2-5), sondern vielmehr
ihre „Denkbarkeit" erweisen.

Das Buch ist in Anlehnung an eine scholastische „Quästio"
konstruiert: Nach der Auflistung der Einwände folgt eine Darlegung
der Erfordernisse, die eine Christologie zu erfüllen habe
(Kap. 6- 9). Dies geschieht, wie in einer richtigen Quästio in dieser
Phase, auch durch Anknüpfung an theologische Vorarbeit
anderer. Das Gesprächsfeld von Sturch kann man sich kaum weit
genug vorstellen. Genau in der Mitte des Buches steht dann das
zentrale zehnte Kapitel - schon durch seine Länge von allen
anderen unterschieden - mit der „Antwort", die in integrativer
Reaktion auf die Gegenargumente das Notwendig-zu-Sagende
bewahrt. Sturch reaktiviert hier die Theorie vom doppelten Bewußtsein
Christi, die schon im 19. Jh. (z.B. bei Charles Gore) in
der anglikanischen Theologie vornehmlich antiochenische Traditionen
lebendig hielt. Anschließend (Kap. 11-18) werden die
Argumente aus den ersten fünf Kapiteln im Lichte dieses Modells
geprüft. Ein kurzes Schlußwort bittet um Verständnis für so
viel intellektuelle Chirurgie, und im Anhang folgen sieben Exkurse
über klassische christologische Begriffe und Ansätze.

Können wir also vom Deus incarnatus reden? Sturchs Antwort
ist überraschend und aufregend: Wir müssen es, aber
durchaus nicht in allen Bereichen der Christologie! Sondern nur
für die Funktion der Christologie, etwas über das Erlösungswerk
Christi (atonement) zu sagen, ist die Anbindung an die
Person Christi als Deus incarnatus unabdingbar. Für die Rede
von der Offenbarung jedoch sind Modelle hilfreicher, die vom
Handeln von Gottes Geist durch Jesus Christus sprechen.

William Temples „theologische Aufgabenstellung" gilt also
nur für die atonement-Funktion Christi: das göttliche Sohnes-
Bewußtsein muß die menschlichen Erfahrungen für seine eigenen
halten (91). Sturch will dies als denkbar erweisen durch ein
rational einleuchtendes Modell der Verbindung dieser beiden
Bewußtseinsweisen, das deren spezifische Eigenheiten erhält.
Verschiedenheit in der Einheit - gesucht wird ein antiocheni-
sches Verbindungs-Modell. "The Link between God and Man
in Jesus" heißt das zentrale Kapitel, in dem er die Theorie von
einem gemeinsamen Identitätsbewußtsein, einem „Ich" (central
seif) der beiden Bewußtseinsweisen entwickelt. Es ermöglicht
eine gegenseitige Betroffenheit der beiden Bewußtseinsweisen
ohne Aufgabe von deren eigener Identität ("two-way-Incarnati-
on", 106 u. passim). Auch mit diesem Lösungsvorschlag wandelt
er kreativ auf den Pfaden britischer anglikanischer Theologie
und Religionsphilosophie. Die Forderung der Kritiker, eine
Christologie müsse die volle Menschheit Christi vorstellbar
machen, hält Sturch für erfüllt in diesem Modell.

Der Erweis der Denkbarkeit der Menschheit Christi dient jedoch
nicht der Erklärung der Funktion der Offenbarung. Es muß
auch gesagt werden, daß in diesem Menschen Gott handelte. Aus
der central-self-Identität könnte dies nur unter Aufgabe der wahren
Menschheit abgeleitet werden (136/37). Die Rationalität der
Vorstellung der Verbindung von Gott und Mensch in Christus
muß aber durchaus nicht mit nur einer einzigen Theorie erwiesen
werden. Warum also nicht - statt Logos-theologisch über die Person
des Gottmenschen - jetzt Geist-theologisch über die Inspiration
Jesu reden? Diese Erklärung hätte zudem den Vorteil, daß in
ihr die Alternativvorschläge der Kritiker fruchtbar werden können
. (Das imponierende Programm der Geist-Christologie von
Geoffrey Lampe erwähnt Sturch allerdings offenbar nur ungern
und kurz, weil er in diesem die gesamte Trinitätslehre gefährdet
sieht; vgl. 137).

Sturchs analytische Christologie ist ein beeindruckender und
in seiner Offenheit gegenüber allem, was in der Theologie je
gedacht worden ist, faszinierender Versuch, realistische Theologie
zu treiben. Ein gott-menschliches Sein „Jesus" wird grundsätzlich
für evident gehalten (233), wobei das Göttliche im Bereich
des Geistigen bleibt und nicht direkt ins Körperliche eingeht
(184). Vernünftige Sätze, die Christen darüber formen können,
sind unbedingt der „Wohnsitz" der Wahrheit. Hier scheiden sich
durchaus die Wege von dieser Theologie und einer anderen, die
skeptischer ist in bezug auf die Reichweite von Vernunft und
Sprache.

Sturch führt Leser und Leserinnen durch aufregende Diskussionen
von zahllosen theologischen Themen - vom Leiden Gottes
bis zu seiner Meinung nach möglichen weiteren Inkarnationen
auf anderen Planeten. Wie Thomas von Aquin verrät er uns
jedoch niemals eine Lösung gleich am Anfang. Erst müssen wir
uns unter ernsthafter und doch humorvoller Leitung des Autors
durch einen Irrgarten aus Einzelargumenten hindurchdenken.
Auf die Grenzen der analytischen Methode wird man dabei
nicht stoßen. Über sie wurde schon zu Anfang entschieden. Nur
eine Diskussion der Vorausgesetzen Axiome der klassischen
Christologie (vgl. Kap.l) könnte sie zeigen, die nur die Revisionisten
zu verändern bereit sein können. Implizite Voraussetzung
für die lange Quästio ist der altkirchliche Grundsatz: Was nicht
angenommen wurde, wurde auch nicht erlöst. Warum eigentlich
? Kann man diesen Satz wirklich realistisch verstehen und
aus ihm die Notwendigkeit ableiten, von einer objektiven Erlö-