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Ausgabe:

1993

Spalte:

155-157

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Die Bistümer und ihre Pfarreien 1993

Rezensent:

Kirchner, Hubert

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 2

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schichtlichen Phänomens „Erweckung" an, das man mit besonderem
Interesse lesen wird. Der Vf. macht darin Bedenken gegen
die (seit Beyreuther) vorherrschende These, die Erweckung
sei „eine sich in mehreren Ländern zeigende, im Wesen antiaufklärerische
Bewegung" (162), geltend. Hier habe die deutschsprachige
Forschung „Schwachstellen": Erstens sei die Erwek-
kung gar nicht so antiaufklärerisch, wie sie sich selbst sehen
wolle, sondern knüpfe durchaus an eine christliche Aufklärung
an. Zweitens vermenge man mit der Zusammenschau von Erweckung
, Reveil und Awakening zwar verwandte, aber doch unterschiedliche
Erscheinungsformen, deren Differenzierung G. in
seinen sechs ausgewählten Persönlichkeitsbildern zu zeigen gelungen
ist. Drittens bewerte man die Erweckungsbewegung viel
zu eng theologisch und übersähe dabei die ihr wesenseigenen
missionarischen und karitativen Aktivitäten sowie das dichte
Netz persönlicher Freundschaften ihrer Repräsentanten. Viertens
schließlich gäbe es für den internationalen Vergleich noch kein
einheitliches Instrumentarium. Als „Vorarbeit" dafür schält G.
fünf Motive der Bewegung heraus: ein prophetisches, ein chilia-
stisches (wobei man am Rande die interessanten Konzeptionen
der Pre- und Postmillenarier dargelegt bekommt), ein universalistisches
, ein individualistisches und ein soziatives Motiv.

Spannend und überzeugend beschreibt der Vf. eine kirchengeschichtliche
Bewegung, die ihren historischen Platz gewonnen
hat, fokussiert in diesen sechs Porträts. Er würdigt sie sachlich
, aus der Distanz des Betrachters, und benennt ihre Grenze:
Sie, die enthusiastisch angetreten war, mit der Rechristianisie-
rung des namenschristlichen Abendlandes die Weltmission Jesu
zu vollenden, ist mit den Jahrzehnten zwangsläufig selbst
institutionalisiert worden zu einer dauernden Erneuerungskur
für ermüdete Kirchenchristen.

Dankbar legt der Rez. das Buch beiseite, in seinem theologischen
Horizont erweitert und zum Nachdenken gebracht. Anfragen
möchte er folgendes: Mehrmals verwies der Vf. auf freimaurerische
Phasen im Leben seiner Proträtierten, ohne diesem
Aspekt aber weiter nachzugehen (z.B. 27). Ob es weiterhin
zutreffend ist, von einem „prophetischen" Motiv der Bewegung
zu sprechen? Dort wird Gegenwart so endzeitlich interpretiert,
daß man nach heutigem Verständnis eher von einem apokalyptischen
Motiv sprechen könnte. Das leitet über zur Frage nach
dem schönen Titel des Buches, dessen Herkunft als Tholuck-
Zitat der Vf. in der 57. Anmerkung des Schlußessays versteckt
hat. Ist es wirklich „Auferstehungszeit" gewesen - oder doch nur
Millenium der Kirche? Schließlich hat G. den Porträts prosaische
Untertitel gegeben, mit denen er die theologische Quintessenz
der einzelnen zieht. Das überzeugt den Rez. in fast allen
Fällen („Die neue Kirche", „Die evangelische Frömmigkeit",
„Die christliche Nation", „Der rechte Weg", „Die organisierte
Botschaft") - aber nicht bei Finney, denn „der moderne Mensch"
ist längst nicht so vernünftig, wie jener ihn sah, und weder für
Finney noch für seine Zeitgenossen scheint mir dieser Begriff im
heutigen Sinne zutreffend zu sein, auch wenn sie mit der Eisenbahn
fuhren und Henhöfer den „rechten Weg" in seinen Predigten
mit einer Eisenbahnfahrt durchs badische Land verglich.

Leipzig Arndt Haubold

Gatz, Erwin [Hg.]: Geschichte des kirchlichen Lebens in den
deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts
- Die Katholische Kirche. 1: Die Bistümer und
ihre Pfarreien. Mit einem Geleitwort von K. Lehmann. Freiburg
-Basel-Wien: Herder 1991. 654 S. m. Ktn gr.8°. Lw. DM
128,-. ISBN 3-451-22166-7.

Mit dem vorliegenden Band beginnt ein neues, überaus anspruchsvolles
Unternehmen, dessen Umfang sich z.Z. noch gar

nicht übersehen läßt. Geleitet von der Einsicht, daß die gängigen
kirchengeschichtlichen Untersuchungen weitgehend „immer
wieder eingeschränkt worden (sind) auf die großen kirchenpolitischen
Ereignisse, z.B. die Konflikte zwischen Staat
und Kirche sowie die Spaltungen der Christenheit", wobei
schon „die Darstellung der religiösen Kräfte" oft zurücktritt
(Geleitwort von K. Lehmann, 5), sollen gezielt die Bereiche in
den Mittelpunkt des Interesses gerückt werden, die auf jene
Weise an den Rand geschoben werden oder völlig ausgeblendet
bleiben: das alltägliche kirchliche Leben, die Seelsorge, Caritas
usw. Fest geplant sind zunächst fünf Bände, außer dem vorliegenden
noch: Die Feier des Gottesdienstes; Katholiken in der
Minderheit: Auslandsseelsorge, Nichtdeutsche Volksgruppen.
Diaspora; Der Weltklerus; Caritas und soziale Dienste. Weitere
Bände, deren Inhalt auch schon grob umrissen wird (Orden,
Laien, kirchliche Verbände, religiöse Unterweisung, Medien,
Finanzierung kirchlicher Arbeit), sind aber bereits in Vorbereitung
, so daß doch ein sehr weiter Horizont in den Blick genommen
werden soll. Neben diesem umfangreichen thematischen
Programm verdient auch der geographische Rahmen von vornherein
eine entsprechende Würdigung. Die Ausdehnung des
Untersuchungsfeldes auf den gesamten deutschsprachigen
Raum, der neben Deutschland und Österreich also auch die entsprechenden
Teile der Schweiz und Italiens und weitere Nachbarregionen
umfaßt, die zumindest historisch hierzu zählen,
mag etwas ungewohnt sein, dürfte aber gerade für die hier anstehenden
Untersuchungsbereiche das einzig Angemessene
darstellen. Denn damit werden von vornherein die großen historischen
, kulturellen und geistigen Zusammenhänge erkennbar
, wie unterschiedlich auch dann die Entwicklung im einzelnen
verlaufen sein mag. Pro Jahr ist das Erscheinen eines Bandes
vorgesehen, so daß doch ein ziemlich langer Atem vorausgesetzt
wird. Wer ihn aufbringt, wird dann aber reich belohnt
sein. Denn der Anfang schon verspricht nicht nur viel, sondern
vermag die Erwartungen auch weithin zu erfüllen.

Insgesamt 34 Mitarbeiter zeichnen für den vorliegenden ersten,
überaus informativen Band verantwortlich, an ihrer Spitze der Hg.
der ganzen Reihe, Erwin Gatz, Direktor des Römischen Instituts
der Görres-Gesellschaft, durch zahlreiche Veröffentlichungen zur
neueren Geschichte hinreichend ausgewiesen, der selbst eine
große Anzahl von Einzelbeiträgen beigesteuert hat.

Höchst sinnvoll setzt die Reihe mit einer breit angelegten Bestandsaufnahme
der Bistümer und ihrer Pfarreien ein. Damit
wird der Rahmen festgestellt, in dem alle weiteren zu untersuchenden
Bereiche ihren Ort haben werden. Es ergibt sich mit
diesen beiden Ebenen auch nahezu automatisch eine Zweiteilung
des Bandes. Der erste Teil (29-154) schildert in 10 Kapiteln
die „Grundzüge der Pfarreientwicklung von den Anfängen
bis zur Gegenwart". Der Einsatz hier und nicht bei den Bistümern
ist freilich (und nicht nur wegen der Reihenfolge im
Titel!) etwas überraschend. Es sind tatsächlich, zumal in den
ersten Kapiteln, nur „Grundzüge", die man sich partiell schon
etwas ausführlicher wünschte, z.B. was die Impulse der Reformation
angeht, für die nur wenig mehr als eine Seite aufgewendet
wird. Der Grund dafür dürfte in der Konzentration der
Betrachtung auf die rechtliche Gestaltung der Pfarrei, d.h. in
der weitgehenden Ausblendung theologischer Problemstellungen
liegen, speziell zum Kirchen- und Gemeindebegriff sowie
zum Amtsverständnis. Die entsprechenden Aspekte werden für
die reformatorische Neuorientierung zwar stichwortartig immerhin
benannt (die begriffliche Unterscheidung zwischen
Gemeinde bzw. Ortsgemeinde und Pfarrei ist nicht immer eindeutig
), aber hier noch nicht eigentlich aufgegriffen. Ob diese
Konzentration nicht doch eine Verengung bedeutet, darf immerhin
gefragt werden. Sehr erhellend sind die Kapitel über die
josephinische und die französische Pfarregulierung und die detailreichen
Untersuchungen zu neueren Entwicklung seit dem