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Ausgabe:

1993

Spalte:

107

Autor/Hrsg.:

Ritter, Werner H.

Titel/Untertitel:

- 126 Religionsunterricht hüben und drüben 1993

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107

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 2

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Theologie wird mit Worten gemacht, Worten die von weit
herkommen, uns aber wie modrige Pilze im Mund zerfallen,
wenn sie nicht mit eigener Vitalität reinspiriert werden. „Im
Anfang war das Wort ... In ihm war das Leben und das Leben
war das Licht der Menschen." „Wir haben es gehört, mit unseren
Augen gesehen und mit unseren Händen gespürt," das
„Wort des Lebens": „logos tes zoes". Das sind johanneische
Sätze. „Du hast Worte des ... Lebens." (Jo 1,1-3; Uoh 1,1; Jo
6,68) Hast du Worte des Lebens, die dem zoologisch-biologischen
Realitätssinn heutiger Kosmologie Widerhall geben?
Eine weihnachtschristliche Revision - was ja auch eine Form
von Vision ist - kann der neuen Begriffsgeneration immerhin
eine Anschauung, eine Erdenwelt-, eine Wohnwelt-, eine Lebensweltanschauung
bieten. Die von Apologeten eifrig betriebene
Kritik der Weltanschauungen anderer Anbieter wird mit
einer eigenen Realitätssicht, die attraktiver und kommunikabler
ist, am erfolgreichsten sein. Glaube, wer es geprüft.

Werner H. Ritter
Religionsunterricht hüben und drüben (Teil 2)

II. Zwei idealtypische Rekonstruktionsversuche schulischen
Religionsunterrichts in den neuen Bundesländern

1. „Monostrukturelles" und „plurales" Modell

Die entscheidende Frage, an deren Beantwortung sich freilich
die Geister zu scheiden beginnen, aber ist, wie sich Religionsunterricht
gerade in der speziellen Situation der neuen Bundesländer
sachadäquat oder gar optimal darstellen, d.h. begründen
, (re-)konstruieren und realisieren läßt. Schematisch
vereinfacht und idealtypisch gesehen sind dazu im wesentlichen
zwei Lösungsmodelle in der bildungs-, schultheoretischen bzw.
pädagogischen und religionspädagogischen wie bildungs- und
schulpolitischen Diskussion.

Das eine kann man so umschreiben: Zusammenführung,
Uberführung oder auch „Re-Duktion" von (religiösen) Individuen
, soziohistorischen Religionen, Weltanschauungen und Lebensfragen
auf einen (kleinsten?) „gemeinsamen Nenner", realisiert
in einem schulischen Fach, heiße es nun „Religions-Unterricht
", Religionskunde, Religion/Ethik oder Lebensgestaltung
/Ethik/Religion. Dieses Modell postuliert eine A/i7wirkung
des christlichen Glaubens bzw. der christlichen Kirchen neben
anderen Sinn- und Weltanschauungsträgern bzw. - Organisationen
an und in einem einheitlichen, vor allem bildungstheoretisch
und schulpädagogisch legitimierten transkonfessionellen
(nicht a-konfessionellen!) Religions-Unterricht für alle Schüler
, Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen (monostrukturelles
Modell).

Der andere Lösungsvorschlag zielt verstärkt auf Be-Wah-
rung und Gewährung vorhandener religiöser Identitätslagen und
die Ermöglichung von konfessorischer wie diskussorischer religiöser
Identitätsbildung67, realisiert in der Form eines christlich
, derzeit immer noch de jure und formal konfessionell verantworteten
Religionsunterrichts neben anderen Realisierungsformen
dieses Unterrichts wie Ethikunterricht oder „Werte und
Normen". In diesem zweiten Modell vollzieht sich die Mitwirkung
des christlichen Glaubens bzw. der christlichen Kirchen
an der staatlichen Bildungsaufgabe in der religiösen Dimension
in eigenständig- autarker Weise (plurales Modell).

Wird im ersten Lösungsvorschlag vor allem mit Argumenten
der Bildungstheorie und Schulpädagogik, des weltanschaulichen
Pluralismus und religiös-kultureller Veränderung gearbeitet, so
im zweiten verstärkt mit Argumenten kultureller Herkunft, der
Wirkungs- und Geistesgeschichte, der kirchlichen (wenn auch
zahlenmäßig eingeschränkten) Traditionsbestände und lebensformbezogener
Pädagogik bzw. Religionspädagogik (Einzelheiten
s. in III. und IV.).

2. Schultheoretische und/oder subsidiäre Begründung?

Sehe ich recht, dann ist zwischen beiden Lösungsmodellen
letztlich die Frage strittig, ob sich ein schulisches Fach „Religionsunterricht
" (in den neuen Bundesländern) heute exklusiv
und rein vom Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule her

be-gründen und etablieren kann?* Wie tragfähig ist denn eine
rein schul- und bildungstheoretische Begründung des Religionsunterrichts
? Können ein weltanschaulich neutraler Staat und
eine weltanschaulich neutrale Schule selbst Maßstäbe für den
schulischen Umgang mit Religion und Ethik setzen? Woher
hätten sie ihre Kriterien? Soweit ich sehe, kann der Staat in diesem
Zu-sammenhang nur zwei Aufgaben wahrnehmen: Einmal
im Sinne der Legislative entsprechende Regularien schaffen und
zum anderen für deren Umsetzung (Exekutive) sorgen. Die
Schwach-steile dieses Begründungsversuches liegt m.a.W. - es
sei noch einmal daran erinnert (s. Teil 1, IV) - darin: Wenn und
wo der Staat exklusiven Zugriff auf Religion in der Schule im
Sinne eines Organisations- und Darstellungsmonopols erhält,
fördert dies seine „Allzuständigkeit" und seine „Alleinzuständigkeit
" für eine Art „Schulreligion".69 Demgegenüber ist kritisch
an das „Subsidiaritätsprinzip" zu erinnern, mit dem die
Väter und Mütter des Grundgesetzes der Kirche und anderen
Trägern (!) einen gesellschaftlichen Gestaltungsraum eröffneten,
der dem Staat per Grundgesetz im Interesse einer offenen Gesellschaft
vorenthalten werden sollte.70 Legen wir bei der Begründung
und Ausgestaltung von Religionsunterricht dieses Subsidiaritätsprinzip
zu Grunde, müssen dann Schule (bzw. Staat) und
Kirche grundsätzlich wie auch handlungspraktisch so restriktiv
getrennt werden, wie dies in der jüngsten (oben genannten) Diskussion
immer wieder erwogen, ja gefordert wird?71 Schule als
Einrichtung der Gesellschaft ist Teil dieser Gesellschaft, deren
Mitglieder eben auch religiös (kirchlich, christlich) orientiert sind
bzw. sich so orientieren wollen. Legt es sich insofern nicht nahe
- die Frage sei gestellt -, bei der Begründung und Etablierung
von Re-ligionsunterricht nicht einlinig schul- und bildungstheoretisch
zu verfahren, sondern „doppelt", nämlich auch im gezeigten
sub-sidiären Sinne? Zwar läßt sich Religionsunterricht in der

67 Vgl. dazu W. H. Ritter, Zum Problem der Identität in christlich theologischer
Perspektive, in: Wz.M 31, 1979, 488ff.

6S In diesem Sinne votieren G. Otto / J. Lott; H. Luther. Religion und
Allgemeinbildung, in: EvErz 43. 1991,1, 2ff. sowie G. Doye, ..Lebensgestaltung
/Ethik/Religion" - Ein Unterrichtsfach für alle?, in ChL 44, 1991.
3IO(308ff.).

69 Es führen also nicht nur, wie U. Baltz-Otto/G. Otto, Überlegungen...
a.a.O., 17 zurecht schreiben, ..Kirchlich-konfessionelle Legitimalionsver-
suchc.zur Fremdbestimmung des Religionsunterrichts"!

70 In diesem Sinne votiert auch die „Stellungnahme des Rates der EKD
zu verfassungsrechtlichen Fragen des Religionsunterrichts" (7.7.1971).

71 Mit K. Dienst. Einführung von Religionsunterricht in den neuen Bundesländern
?, in: EvErz 43, 1991. I, 20f. Insofern kann der Satz von G.
Doye eine falsche Alternative aufreißen: ..In welcher Weise auch immer
Kirche für den Lernbereich eine Mitverantwortung Ubernehmen wird, es
geht dabei nicht um das Recht der Kirchen, den eigenen Unterricht in die
Schule zu verlegen. Sondern es geht vielmehr um ein Recht des Kindes
/Jugendlichen, daß ihm Lebens- und Weltdeutungen aufgeschlossen
werden. Dies aber ist ein Recht aller Schüler." G. Doye, „Lebensgestal-
tung/Ethik/Religion" - Ein Unterrichtsfach für alle?, a.a.O., 3IOf.