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Ausgabe:

1993

Spalte:

99

Autor/Hrsg.:

Timm, Hermann

Titel/Untertitel:

- 108 Neuschöpfung 1993

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99 Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 2 100

Hermann Timm

Neuschöpfung. Die Symbolisierung der Welt als Lebenswelt*

Natur und Schöpfung in ihrer heutigen Wertigkeit sind kein
akademisches Produkt. Sie entstammen der allgemeinen Zeitgenossenschaft
, geprägt von der Betroffenheit durch die Ökologiekrisenmentalität
. Das gilt auch für die theologisch-kirchliche
Szene. Durch die Diskussion geistert der Schöpfungsglaube.
Darauf will ich meine Sonde richten, weil der Begriff vermischt,
was man auseinanderhalten sollte, um in der Sache voranzukommen
. Er bedarf der Kritik. Eines ist der Glaube an Gott als
Schöpfer, ein anderes die kreatürlich bestimmte Lebens- oder
Naturfrömmigkeit. Schöpfungsfrömmigkeit? Ja! Schöpfungsglaube
? Nein!

Die Unterscheidung tut Not, um auf den Weg zu bringen,
woran es fehlt: eine teilautonome Religionskosmologie des
Christentums. Ich will mich ihr mit der Lebenswelt und deren
Symbolisierung nähern. Symbolisch soll die Sinnrationalität
des Kreatürlichen in seinen konkreten Inkarnationsverhältnissen
heißen, nicht reduzierbar auf die Idee des autokratischen
Willens- und Handlungssubjekts, das der antiken wie der modernen
Gotteslehre zugrunde liegt. Integre Schöpfungsfrömmigkeit
wird erst denkbar, wenn man in die postmoderne Differenzierung
zwischen Autorenherrlichkeit und Werkautonomie
eintritt. Gerhard von Rad nannte es weisheitliche „Selbstoffenbarung
der Schöpfung."

1. Angebot und Nachfrage

Nachdem die freie Marktwirtschaft weltweit über ihre Konkurrenten
gesiegt hat, besteht ein Grund mehr, sich auch akademisch
in deren Gestus zu üben. Das heißt Angebote zu unterbreiten
, wie auf dem Marktplatz: freie geistige Marktwirtschaft
im Plural der Offerten, ohne Monopole. Ich biete dir an, die Dinge
so zu sehen. Die Wahl liegt bei dir. Du bist frei. Mit dem
Verlust des Seelenheils drohen, können wir nicht mehr. Es wirkt
anachronistisch. Die Autorität kirchendogmatischer Systeme ist
rückläufig. Und auch Wissenschaft ist nicht mehr, was sie einmal
war: der Lieferant von Wirklichkeit. In die Universitätstheologie
hat eine neue Bescheidenheit Einzug gehalten.

Bescheidenheit sollte allerdings nicht mit Kleinmütigkeit
verwechselt werden, als ob sie ihrer Sache nicht sicher sei. Keineswegs
. Ich will dir ein Angebot machen, das du nicht ablehnen
kannst. Prüfe es. Recht verstandenes Eigeninteresse wird
dich nötigen, zuzugreifen. Ohne Zwang, selbstredend, aber
auch ohne Zweifel. Die Option ist konkurrenzlos der Konkurrenz
überlegen, hat also obligatorischen Charakter, weil einzig
in ihrer Art. Der Monotheismus verlangt nach Einheit und das
ausschließlich. Nur darf sie nicht monopolistisch präsentiert
werden. Es kommt auf einen spezifischen Nötigungscharakter,
eine Begründung oder Legitimation sui generis an.

Entsprechendes Interesse ist am Markt auch vorhanden. Es
lohnt, da zu investieren. Wer es tut, darf auf rege Nachfrage für
seine Angebote rechnen. Ein breites, öffentlichkeitswirksames
Suchen nach Religion, Spiritualität oder Lebensfrömmigkeit
hat begonnen, das sich in teils neue, teils alte Formen ergießt.
Nachdem die Theorien vom Ende der Religion an die
Geschichtsbücher überwiesen worden sind - Rubrik „Falsche
Prophetie" - werden die religionskulturellen Erbschaften der
Väter wieder fragwürdig gemacht: würdig, neu befragt zu werden
. Wir haben dafür den Namen Neuschöpfung: zum „Beweis
des Geistes und der Kraft", seit Paulus Lehensschöpfer genannt
.

* Gekürztes Manuskript eines Vortrags, der am 10. 3. 1992 im Rahmen
einer Pfarrerbildung an der Ludwig-Maximilians-Universität München
gehalten wurde.

Eine Neuauflage der RGG wird fällig: „Die Religion in Geschichte
und Gegenwart." Die Religionsgeschichte geht gegenwärtig
weiter als vergangene Lehrbuchorthodoxien wahrhaben
wollen. Dem religiösen Wort fällt in der Erwartung der
Jetztzeit unverhoffte Lebenskraft zu. Wessen es noch fähig ist,
bleibt abzuwarten. Und welche Geschichte dereinst von unserer
Generation erzählt wird, darauf darf man gespannt sein. Stirb
und Werde. Es kommt darauf an, die Chancen zu nutzen.

Warnen sollte man allerdings vor einer kurzschlüssigen Re-
klerikalisierung der neuen Religionswilligkeit, wie sie in Rom
und anderwärts betrieben wird. Ebenso wie vor einer Retheolo-
gisierung der neuen Schöpfungsfrömmigkeit in Fortschreibung
traditioneller Dogmen. Das hieße die Zeichen der Zeit apologetisch
mißdeuten und am Markt vorbeiproduzieren. Was er verlangt
, ist ein Schritt über Orthodoxie- wie Heterodoxiefähigkeit
hinaus in theologisches Neuland.

2. Kosmovitalität

Der Generalnenner für unsere Zeitbürgerschaft heißt Leben.
Dieser Vokabel entstammt, was mit Aussicht auf generelle Einstimmungsbereitschaft
gesagt werden kann. Sein Bedeutungshof
deckt sich mit der Sphäre des Sensus communis. Vage, aber immerhin
, eine Grundtönung ist da. Lebensdienlich, lebensfähig,
lebenstüchtig, lebenswert, lebenswahr, lebensweise sind Ausdrücke
, die deskriptiv wie präskriptiv verwendet werden, ohne die
Demarkationslinie mit letzter Deutlichkeit ziehen zu können. Sie
beschreiben im Stil biologisch-zoologischer Kennerschaft was ist:
den Befund der Selbstregsamkeit organischer Systeme, rufen aber
zugleich normative Anmutungen wach, die unser Ethos affizieren
und übergangslos ins religiös Unfaßliche ausstrahlen.

Der Grund ist schnell genannt, weil denkbar trivial. Leben
bezeichnet den Seinssinn dessen, was Mensch genannt wird. Ich
hin heißt: hin am Lehen. Vivo sum. Mehr als leben wollen wir
nicht, was wir aber an ihm eigentlich haben, dem Lebendigsein,
woher es stammt und wie die Kunst aller Künste er-lernt wird,
das Lebenkönnen im emphatisch getönten Vollsinn des Wortes-
vom elementaren Triebverlangen des Körpers bis zu den Subli-
mitäten des Geistes und der Wahrheit, dies Geheimnis, mit dem
jeder leibeigen vertraut ist und das noch keiner durchschaut hat.
ist zur gegenwartsspezifischen Allerweltsfrage geworden. Sie
bestimmt das Worin der anthropologischen Vorfindlichkeit, ge'
nannt Lebenswelt. - Der Kontrast soll verdeutlichen, was gemeint
ist.

Martin Heidegger hat die ontologische Grundfrage: Was is'
der Sinn von Sein? mit dem In-der-Welt-Sein des Menschen
beantwortet, dieses Innesein aber als Befangenheit ausgelegt'
extrem negativ wie in einem Haftraum, einem Gefängnis. We"'
lichkeit sei der uneigentliche Modus von Dasein: Verfallen- un"
Geworfensein, wie man in ein Verließ geworfen wird, eine Erd'
höhle oder Grabkammer, daß alles Trachten des Herzens aul u'e
Befreiung gerichtet sein muß, auf den Gegenentwurf in d'e
Eigentlichkeit namens Existenz: Heraustreten. Rudolf Bultman'j
nannte ihn in Aufnahme von „Sein und Zeil" Entweltlicluwg un
machte so den Piatonismus, die Gnosis und die Seelenmetaphy'
sik augustinischer Prägung im Hintergrund der Existenzkosm0'
logie hörbar. Glaube ist nicht von dieser Welt, der Sinnenwe'''
der Totenwelt. Er aufersteht aus ihr. So wie die Hoffnung s'c
um des Auszugs willen von ihr, der bösen, immobilen Gege"'
wartswelt löst, hies es eine Generation später, als Ernst Bl°c
den Akosmismus exodustheoretisch wendete: Transzende112
nach vorne statt nach oben. Das hat den Euphorismus der z*f*'
ten Aufklärung in den 60er Jahren betlügelt.