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Ausgabe:

1993

Spalte:

1070-1073

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Gehrlein, Dieter

Titel/Untertitel:

Glauben voller Lebenslust 1993

Rezensent:

Engemann, Wilfried

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 12

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tiviert. wenn nicht strikt abgelehnt. Sogar bei der Erörterung der
religiösen Entwicklung werden eher Meinungen von Autoren wie
Spranger oder K. Heim erwähnt als von Freud oder Jung (der im
ganzen Buch nicht vorkommt) und ihren Nachfahren.

„Wenn etwas schiefgeht" lautet die recht saloppe Überschrift
des 4. Kapitels (189-214), das sich eigentlich mit den psychischen
Störungen beschäftigt, jedoch vorwiegend nur mit Streßfolgen
und depressiven Zuständen. Wer mehr über die psycho-
pathologischen Phänomene erfahren will, muß unter 7. den ausführlichen
Anhang mit „Einzelheiten zu psychischen Störungen
entsprechend den Kriterien des DSM-III-R" (327-378) aufschlagen
. Der Vf. bezieht sich auch sonst, z.B. bei seiner Nomenklatur
und Einteilung in der Psychopathologie, häufig auf das von
der American Psychiatric Association herausgebrachte Diagnostic
and Statistical Manual of Mental Disorders in der Revision
von 1989 (Abk. DSM-III-R), das offenbar bis in die Neurosenlehre
hinein von der Verhaltenspsychologie und -therapie geprägt
ist. Die vom Vf. ausgewählten Angaben sind m.E. informativ
, zuverlässig und für den Seelsorger als Orientierungen
nützlich.

Doch nun zu dem längsten und wichtigsten Kapitel 5 „Wie
man helfen kann" (215-321): Hier geht es unter 5.1. und 5.2.
ausdrücklich um die Biblisch-therapeutische Seelsorge (Abk.
BTS). An diesen beiden Abschnitten hat lt. Vorwort der Theologe
W. Veeser mitgearbeitet, der auch im übrigen Buch die theologischen
Partien zu überprüfen hatte und in dieser Hinsicht
wohl etwas differenzierend und ausgleichend wirkte. Er kann
u.a. an A. D. Müllers Definition der Seelsorge als Glaubens- und
Lebenshilfe anknüpfen und das methodische Vorgehen der BTS
nach Dieterich mit der Formel M= f(S. R. U) bezeichnen, d.h.
Sie sei abhängig sowohl vom Seelsorger (S) wie vom Ratsuchenden
(R) und von den jeweiligen Umständen (U) (vgl. 218),

- eine poimenische Binsenweisheit. Auch die „sechs Ausprägungsformen
der BTS". nämlich trösten, zurechtweisen, lösen/
binden, einen Lern- und Umdenkprozeß einleiten, einen Prozeß
der Selbsterkenntnis einleiten und Vergangenheit analysieren
bzw. in die Zukunft blicken (vgl. 219) enthalten auf den ersten
Blick wenig Neues. Es wird sogar die „Engführung auf die sogenannten
.klassischen Formen' (die ersten drei in der Aufzählung
) kritisiert und kurioserweise mit der Abgrenzung gegen die
moderne Seelsorgebewegung begründet, die den kerygmati-
schen Aspekt vernachlässigt habe (ebd.). Berechtigt ist gewiß
auch die Warnung vor einer überzogenen „nouthetischen" Seelsorge
(nach J. Adams), bei der jedes psychische Problem oder
Leiden sogleich auf ein gestörtes Gottesverhältnis oder nach
dem hier nicht genannten Kurt E. Koch auf okkulte Belastung
zurückzuführen sei (vgl. 239, 244 u. 317). Neben vielen anderen
beherzigenswerten Aussagen ist der Unterscheidung der „intersubjektiv
nachprüfbaren Ergebnisse einzelner psychologischer
bzw. psychotherapeutischer Schulen von deren weltanschaulichen
Prämissen" (224) ebenso zuzustimmen wie der daraus
abzuleitenden Feststellung: „Dort, wo eine psychotherapeutische
Methode zur Herrschaft des Therapeuten über den Ratsuchenden
führt, wo er nicht mehr als ein von Gott geliebter,
gewürdigter und begabter Mensch gesehen wird oder zu einem
/u manipulierenden Objekt der psychotherapeutischen Handlung
geworden ist, muß die Methode auf dem Hintergrund der
biblischen Anthropologie verworfen werden." (227)

Muß aber eine derartige Absage nicht gerade die Verhal-
tenstheraphie treffen, die doch - wie man mit Recht gemeint hat,

- bis heute ihre Herkunft aus dem Rattenlabor nicht ganz verleugnen
kann? Es verwundert den Leser schon, daß Dieterich zu
5.3. „Lernen und Verlernen" erklärt: „Die im nachfolgenden
Abschnitt zur Verhaltenstherapie beschriebenen Methoden beruhen
beispielsweise auf der von Gott eingestifteten Fähigkeit des
Menschen, zu lernen und umzudenken." (248) Gilt die von ihm
hier behauptete Möglichkeit, Ideologie und Methode zu trennen.

nicht auch von den tiefen- und pastoralpsychologischen Richtungen
, die er nicht theologisch sanktioniert, sondern eher verdächtigt
?

Immerhin läßt der Autor zum Nutzen der BTS auch noch
andere psychotherapeutische Konzeptionen in bestimmter Auswahl
gelten, etwa die Gesprächstherapie nach Rogers (eingeschlossen
sogar Selbsterfahrungsgruppen für angehende Seelsorger
, s. 286!) sowie einige Aspekte der Adler'schen Individu-
alpsychologie und die Logotherapie Frankls. Er übernimmt, was
er im Rahmen seiner BTS gebrauchen und verwerten kann, übt
aber aus seiner Sicht auch scharfe theologisch motivierte Kritik.
Z.B. habe in der Logotherapie „humanistisches Gedankengut die
Funktion einer Quasireligion übernommen", weil „Gott" und
„Jesus Christus" durch abstrakte Begriffe wie „Schicksal" und
„Über-Sinn" ersetzt worden seien (vgl. 313). Hermeneutisch
naiv wird gefordert, „daß wir die biblischen Grundprinzipien der
Sinn- und Lebenserfüllung wieder in den Mittelpunkt unserer
Therapie - auch bzw. gerade bei NichtChristen setzen... Ein Auffüllen
des .existentiellen Vakuums' durch die .Frohe Botschaft'
in Jesus Christus." (ebd.) Bei allem Respekt vor sofehem Bemühen
und bei aller Notwendigkeit, in der Seelsorge die biblische
Botschaft nicht zu verschweigen, darf doch gefragt werden,
ob gerade die kognitiven Methoden der Verhaltens- oder Lem-
psychologie und direktive bzw. doktrinäre Verkündigung geeignet
sind, dem heutigen Menschen das Evangelium nahezubringen
, das in freier, zeitgemäßer Vermittlung angeboten und nicht
mit fertigen Formeln „eingelernt" sein will.

Woher rührt nur diese einseitige Option der BTS für die Verhaltens
- und Lerntheorien und die Angst vor der Tiefen- oder
der Pastoralpsychologie, an deren Methodenvielfalt und ideologisch
nicht festgelegten Menschenbild man heute nicht mehr zu
zweifeln braucht? Die Affinität zu diktatorischen Systemen
macht betroffen: Faschismus und Marxismus behinderten oder
unterdrückten die Psychoanalyse, ließen die Verhaltenspsychologie
aber gewähren oder förderten sie sogar, weil man mit ihrer
Hilfe meinte, Menschen manipulieren zu können. Keineswegs
möchte ich den Autoren der BTS solche Tendenzen unterstellen:
aber sie und ihre geneigten Leser mögen doch über derartige
Strukturanalogien einmal nachdenken.

Mit dankbaren Benutzern wird dieses Handbuch trotz allem
rechnen können, wie allein die Tatsache einer 2. Aufl. nach drei
Jahren zeigt; es entspricht einem großen Bedürfnis nach Information
und Orientierung für die Seelsorge. Auch der Rez. las
das Buch mit viel Gewinn im einzelnen und weiß den entschiedenen
Einsatz der BTS für die christliche Identität der Bemühung
um die Ratsuchenden durchaus zu schätzen, aber eine
selbstkritische Erweiterung der theologischen und psychologischen
Prinzipien wäre ihr für die Zukunft doch zu wünschen.

Rostock Emst-Rüdiger Kiesow

Gehrlein, Dieter: Glauben voller Lebenslust. Die Hilfe der
Transaktionsanalyse. Freiburg-Basel-Wien: Herder 1992. 297
S. 80. Kart. DM 39,80. ISBN 3-451-22843-2.

Gemessen an der hohen Zahl von Veröffentlichungen, die vor
allem in den siebziger Jahren dazu beigetragen haben, die Transaktionsanalyse
(TA) auch im deutschen Sprachraum bekannt
und populär zu machen, ist es um die von Eric Berne entwickelte
Psychotherapie deutlich ruhiger geworden. Dies ist freilich
nicht als Indiz dafür zu werten, daß die Ergebnisse und Verfahrensweisen
der TA aufs Ganze gesehen zu unerheblich gewesen
wären oder dem wissenschaftlichen Disput im Detail nicht
standgehalten hätten. Vielmehr sind im Laufe der letzten 20 Jahre
jene Elemente der TA, die sich als innovativ bzw. produktiv