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Ausgabe:

1993

Spalte:

1011-1012

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Görnitz, Thomas

Titel/Untertitel:

Carl Friedrich von Weizsäcker 1993

Rezensent:

Genest, Hartmut

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1011

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 12

1012

Görnitz, Thomas: Carl Friedrich von Weizsäcker. Ein Denker
an der Schwelle zum neuen Jahrtausend. Freiburg-Basel-
Wien: Herder 1992. 191 S. 8« = Herder/Spektrum, 4125.
Kart. DM 16,80. ISBN 3-451-04125-1.

Thomas Görnitz, Physiker und enger Mitarbeiter Carl Friedrich
von Weizsäckers (19f. 178. 185. 191), hat anläßlich des
80. Geburtstages dieses „Denker(s) an der Schwelle zum neuen
Jahrtausend" den Versuch unternommen, in dessen Lebenswerk
einzuführen.

Ein solcher Versuch, dem interessierten Leser „einen Überblick
auch über diejenigen Teile des umfangreichen Werkes zu
vermitteln, welche er vielleicht bisher noch nicht gelesen oder
aber als zu schwierig betrachtet hat" (9), ist schon darum verdienstvoll
, weil das Werk von Weizsäckers sehr unterschiedlichen
Themen und Problemen gilt, die in ihrem Nacheinander
und Nebeneinander nicht leicht als ein Ganzes wahrzunehmen
sind. Die ebenso verständig wie verständlich geschriebene Darstellung
von Görnitz vermittelt einen Eindruck von dem umfassenden
und eindringenden Denken von Weizsäckers.

Aber auch aus einem anderen Grund ist eine solche Einführung
von Bedeutung: Man kann sich dem Eindruck nicht entziehen
, daß die Rezeption des Denkens von Weizsäckers auch in
kollektiver Hinsicht nur partiell erfolgt. So haben Naturwissenschaftler
oft wenig Verständnis für die so wichtigen philosophischen
Fragestellungen. Theologen haben Schwierigkeiten, den
Charakter der modernen Physik zureichend zu verstehen. Und
die mehr emotional bestimmte Ablehnung etwa der Theorie und
Praxis der Abschreckung durch die Friedensbewegung zeigt ein
Defizit an präziser Erkenntnis der komplexen technischen und
politischen Probleme. Diese interessenbedingt aspekthafte Rezeption
je des „Physikers", des „Philosophen" und des „Frie-
densforschers" Carl Friedrich von Weizsäckers ist eine Bestätigung
der „Dreiecksfeindschaft", von der er im Blick auf Naturwissenschaften
, Gesellschaftswissenschaften und religiöses Bewußtsein
einmal gesprochen hat (vgl. 150f). Die nicht nur in der
Person von Weizsäckers (zufällig) vereinigte, sondern in der
Sache (notwendig) zu vereinigende Ganzheit der Aspekte wird in
dem Buch von G. eindrücklich herausgearbeitet.

Unter den Stichworten „Forschen", „Philosophieren", „Glauben
" und „Handeln" (9.178) werden die Dimensionen des Lebenswerkes
von Weizsäckers und deren Beziehungen zueinander
dargestellt. Ein einleitendes Kapitel über den Lebenslauf und den
wissenschaftlichen Werdegang, ein „Versuch eines Ausblickes
auf sein Wirken" (178) und eine Bibliographie runden das Ganze
ab.

„Das Leben" (1.) zeigt C.F. von Weizsäcker als Angehörigen
einer bedeutenden deutschen Familie im Glanz und Elend
deutscher Geschichte. Sein „wissenschaftlicher Werdegang" ist
bestimmt von der „Revolution der Physik am Beginn unseres
Jahrhunderts" (20.34), deren früher Mitwisser und Mitgestalter
von Weizsäcker war. So erfuhr er (als Vierzehnjähriger!) durch
Werner Heisenberg von der für die Quantenphysik fundamentalen
Unbestimmtheitsrelation und als junger Physiker durch Otto
Hahn von der Kernspaltung.

Seine „Forschung" (2.) erstreckte sich zunächst auf die Kernphysik
im engeren Sinne und auf Probleme der Astrophysik;
wandte sich dann aber mehr und mehr der „Deutung der Quantentheorie
" zu. „Wie man die Quantentheorie praktisch anwenden
soll und wie man mit ihr arbeitet, dies ist unter Physikern
kaum umstritten. Aber wie man verstehen kann, was man dabei
eigentlich macht, darüber gehen die Meinungen sehr weit auseinander
." (47) Von Weizsäckers Deutung ist einmal bestimmt von
der Erkenntnis des nicht auszuschaltenden Einflusses der Beobachtung
auf die beobachtete Realität („Die Kopenhagener Theorie
", 53ff.), zum andern durch die konsequente Anwendung der
Quantentheorie auch auf den Beobachter („Die Triestiner Theo

rie", 56ff.). Damit gewinnt die Quantentheorie den Charakter
einer „holistischen" Theorie, einer „Physik der Ganzheit"
(58.68). Die Ausarbeitung der Theorie der „Ure" („Quantentheorie
der binären Alternative") durch von Weizsäcker und seine
Mitarbeiter hat das Ziel, eine alle Teilbereiche (Raum. Zeit, Gravitation
, Elektrodynamik, Kernphysik) integrierende Einheit der
Physik zu gewinnen und stellt nach G. die „bedeutendste wissenschaftliche
Leistung" von Weizsäckers dar (60).

Eine solche Meta-Physik zwischen empirischem Erklären
und transzendentalem Verstehen führt von selbst zu philosophischen
Fragestellungen. Im „Denken" (3.) von Weizsäckers geht
es (wie bei Kant) um ein tieferes Verstehen dessen, was Erfahrung
ist. Dabei spielt der Unterschied von Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft eine ebenso wichtige Rolle wie die Frage,
was denn Wissen bzw. Information sei. Die philosophischen
Überlegungen von Weizsäckers zielen auf eine Überwindung
der cartesianischen Spaltung von Materie und Bewußtsein in
einem „spirituellen Monismus" (88). Der Denkweg des Physikers
führt so von einer Theorie der menschlichen Erfahrung
zum „Gedanken einer umfassenden geistigen Wirklichkeit" -
von Kant zu Plato (95.101).

Daß es hier zur Religion nur ein Schritt ist, zeigt der Abschnitt
,J)er Glaube" (4.). Der Anblick des Sternhimmels
(„Hier ist Gott gegenwärtig - und die Sterne sind glühende Gaskugeln
"), der Eindruck der Bergpredigt („Wenn das, was da
steht wahr ist, dann ist mein Leben falsch") und ein spätes
mystisches Erlebnis in Indien („,Du' - ,Ich' - ,Ja'") waren für
von Weizsäckers religiöse Haltung prägend: „In der Ethik und
in der inneren Erfahrung sind die großen Religionen grundsätzlich
vereinbar; die Vereinbarkeit nähert sich der Identität auf
den höchsten Stufen, nämlich in den reinsten Formen der Ethik
und in der mystischen Erfahrung... Die unüberbrückbaren Gegensätze
treten in der Selbstdeutung auf, in den Theologien, die
jeweils unfehlbare Wahrheit für sich in Anspruch nehmen."
(104.124.118)

„Das verantwortliche Handeln" (5.) tritt im Lebensweg von
Weizsäckers in drei Gestalten in Erscheinung: Zunächst als Politikberatung
. Hierher gehören seine Gespräche mit der Bundesregierung
über die Atombewaffnung, die berühmte „Göttinger
Erklärung" und die Veröffentlichungen über „Kriegsfolgen und
Kriegsverhütung". Dann als Beratung des Politischen in der
interdisziplinären Arbeit des von ihm geleiteten Starnberger Instituts
zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich
-technischen Welt. Zu den Fragen von Krieg und Frieden traten
nun die Probleme der Unterentwicklung und der bedrohten
Umwelt in das Blickfeld. Schließlich als politische Beratung.
Von Weizsäcker greift den Gedanken eines Konzils auf: „Nur die
Religion... hat eine hinreichend tief gegründete ursprüngliche
Vision dessen, was sein muß, und eine heute noch hinreichend
breite Resonanz unter den Menschen." (153) Er setzt sich für
eine Weltversammlung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung
der Schöpfung ein und wird deren geistiger Führer. Wenn
auch die theoretischen und praktischen Ergebnisse der konzili-
aren Bewegung weit hinter den Ideen von Weizsäckers zurückblieben
, haben sie doch (etwa in der Vorbereitung der friedlichen
Wende in Deutschland) erhebliche Wirkungen gehabt.

Der letzte Abschnit „Das Wirken" (6.) nennt noch einmal die
leitenden Interessen von Weizsäckers: Physik, Philosophie. Politik
- und macht deutlich, wie das Denken im Kreisgang endlich
sich rundet. Der Titel des kürzlich erschienenen „philosophischen
Hauptwerk(es)" von Weizsäckers „Zeit und Wissen"
könnte auch die Überschrift seines Lebenswerkes sein. Thomas
Görnitz ist zu danken für seine Einführung in dieses Lebenswerk
, durch das gerade auch der Theologie Aufgaben gezeigt
und Wege gewiesen werden.

Naumburg Hartmut Genest