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Ausgabe:

1993

Spalte:

965-967

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Titel/Untertitel:

Strafe: Tor zur Versöhnung? 1993

Rezensent:

Nembach, Ulrich

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 11

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der Untertitel seiner Arbeit -, warum erprobt er sich nicht an
jener statistischen Methodik, die ja bekanntlich in der Betriebswirtschaft
gang und gebe ist, gerade auch mit dem Impuls, daß
ethische Anfragen hier keinen Ort hatten? Abgesehen davon,
daß v. Qettingeil sich selbst nicht auf wirtschaftsethische Ansätze
von Aristoteles und Thomas von Aquin bezieht, wird auch in
seinen eigenen Zusammenfassungen doch gerade nicht die
Nützlichkeit von Statistik demonstriert und die Bemerkung auf
S. 245 hilft da auch nicht weiter.

Am Ende liest man den höchst problematischen Satz, daß die
christliche Glaubensgewißheit „mit neuem Selbstbewußtsein auf
Wissenschaft und Kultur zugehen kann" (293). Das, was die
Statistiker vertreten, seien sie nun „Subjektivisten" oder „Objek-
tivisten", greift gleichermaßen auf Grundüberzeugen zurück wie
bei den Theologen, und hier kann die Vernunft nicht mehr weiterhelfen
. Damit gewinnen Überzeugungen, die „bislang gegen
die herrschende Meinung der Neuzeit eher in einem diskriminierenden
Sinn kontrafaktisch geglaubt werden mußten" (294), im
Kopfe des Vf.s neue Bedeutung. Aber kann man so simpel mit
dem, was ich das „Mysterium der Letztbegründbarkeit" nennen
würde, umgehen? Steht dann nicht Überzeugung gegen Überzeugung
, und dies mit dem Resultat, daß die Forderung der
theologischen Anerkennung göttlicher „gubernatio und provi-
denz [! Y. Sp.|" (294) den Vorrang hat?

Zahlen moralstatistischer, religionsgeschichtlicher, soziologischer
oder kirchenpolitischer Herkunft können freilich nie „Beweise
" liefern, sie bleiben natürlich immer nur Hinweise unter
Berücksichtigung methodischer und durch Vorurteile entstandener
Fehler, Den Kirchen und Hinzeinen steht es frei, daraus ihre Folgerungen
zu ziehen. Niemand behauptet, daß die Mehrheit auch
das Wahre sei. Aber wesentlicher ist doch die theologische Besinnung
darauf, wie man sich mit herrschenden Meinungen, seien es
statistische oder auch wirtschaftliche, auseinandersetzt, wie man
mit den eigenen Glaubensbeständen selbstkritisch umgeht.

Frankfurt/M. Yorick Spiegel

Strafe: Tor z.ur Versöhnung? Eine Denkschrift der Evangelischen
Kirche in Deutschland zum Strafvollzug. Hg. vom Kirchenamt
im Auftrag des Rates der Evang. Kirche in Deutschland
1990. Gütersloh: Mohn 1990. 135 S. 8». ISBN 3-579-
01958-9.

Die Evangelische Kirche in Deutschland greift mit dieser
Denkschrift bewußt „ein umstrittenes Thema auf" (9). Die Kirche
wendet sich an die Öffentlichkeit, die Fachwelt und die Ent-
scheidungsträger im Lande (11). Mit Strafe ist im wesentlichen
die Freiheitsstrafe gemeint, die zwar nur knapp 7% aller Verurteilten
antreten müssen, die aber das öffentliche Bewußtsein von
der Strafe und deren Diskussion weitgehend bestimmt. Diese
Bewußtseinslage läßt, so die Denkschrift, die Freiheitsstrafe zur
exemplarischen Erörterung vom „Umgang mit dem Straftäter,
Fragen des Rechts, der Gerechtigkeit und der Schuld, Aufgaben
und Grenzen staatlichen Eingreifens" werden (9).

Die strafrechtlichen Probleme werden in der Einleitung
genannt. Diese werden im folgenden, in einem längeren Abschnitt
im Hinblick auf den gegenwärtigen Strafvollzug, analysiert
. Anschließend wird grundsätzlich gefragt nach Möglichkeiten
, Strafe heute zu begründen. Aus dem Gesagten Konsequenzen
ziehend werden Aufgaben für den Strafvollzug genannt. Schließlich
werden konkrete Empfehlungen vom Rat der Evangelischen
Kirche für die Gemeinden zum Umgang mit Straffälligen gegeben
.

„Ein Blick in den gegenwärtigen Strafvollzug" (21-53) schildert
die Probleme aus der Sicht der Betroffenen: der Gefangenen,
deren Angehörigen, der Bediensteten, der ehrenamtlichen Heller,

der Seelsorger, der Haftentlassenen, der Straffälligenhilfe als Hilfe
an bedürftigen Menschen. Indem die Denkschrift diesen Weg
wählt, heutige Probleme aufzuzeigen, geht sie den des Strafvollzugsrechtes
. Dieses wird durch das Strafvollzugsgesetz aus dem
Jahre 1977 bestimmt. 10jährige Vorarbeiten kamen damit /tun
Abschluß, die auf eine Initiative von Gustav Heinemann zurückgingen
, der 1967 als der damalige Justizminister den Auftrag
erteilte, „den Strafvollzug in Einklang mit den Grundrechten" zu
bringen. Diese längst überfällige Reform - das Grundgesetz war
zu diesem Zeitpunkt bereits 16 Jahre in Kraft - war schwer umzusetzen
. Es bedeutele die totale Abkehr von der bis dahin geltenden
„Dienst- und Vollzugsordnung", die dem Gefangenen „nur
die mit der Unfreiheit zu vereinbarenden Rechte" ließ, wie ein
Kommentator der Ordnung schreibt (21). Die Umsetzung der nunmehr
selbst schon 15 Jahre alten Reform ist noch immer nicht abgeschlossen
. Die Schwierigkeiten werden im Leben der betroffenen
Menschen sichtbar. Die Denkschrift schildert die Situation
und gibt dazu Beispiele: So mußten Gefangene ihr Recht, eine
Tasse bzw. eine Leselampe sich zu kaufen, gegen die zuständigen
Behörden durch zwei Instanzen hinweg erstreiten. Erst die jeweiligen
Oberlandesgerichte verhalfen den Gefangenen zu ihrem
Recht (220- Zu den Schwierigkeiten der Gefangenen im Umgang
mit Behörden kommt der im Umgang mit anderen Gefangenen.
Gewalt ist innerhalb der Gelangnisse längst an der Tagesordnung
.

Die Schwierigkeiten, die Kirche, Theologie und Sozial wissenschalten
im Umgang mit Strafe haben, werden im nächsten Abschnitt
thematisiert. Lange Zeit wurde Strafe in Kirche und
Theologie vom Vergeltungsgedanken bestimmt. In einem weiten
Bogen von der Schrift über Anselm von Canterbury, Luther,
Schleiermacher, Barth u.a. wird der Wandel im theologischen
Denken dargestellt und nach einem neuen Weg gesucht, um
über die so sichtbar gemachten Ansätze zu einem christlichen
Strafverständnis zu kommen (vgl. 7Off). Dieses zu entwerfen,
kann angesichts der Fülle von Problemen einer Denkschrift
nicht gelingen und gelingt auch der vorgelegten nicht. Sie unternimmt
gar nicht den Versuch, aber benennt ..Grundzüge eines
neuen christlichen Verständnisses von Strafe und Strafvollzug"
(76ff). Diese basieren darauf, daß Christen Strafandrohung und
Strafvollstreckung annehmen können, „wenn es darum geht, das
Leben zu bewahren und der Gerechtigkeit den erforderlichen
Raum zu schaffen" (76). Das bedeutet, daß staatliche Strafe
nicht „Vergeltung üben soll oder Sühne erzwingen kann," sondern
sich „an der Wiedergutmachung, dem Täter-Opfer-Ausgleich
und der Konfliktregelung orientiert" (77). Freiheitsstrafen
können hierbei nur letzte Konsequenz sein. Die Wiedereingliederung
in die Gesellschaft hat Vorrang, weil sie „am besten...der
Sicherheit, dem Frieden und der Gerechtigkeit" dient, weshalb
eine Gesellschaft, die dieses Ziel vernachlässigt „sich auf Dauer
selbst" schade (78). Daraus resultierende Schwierigkeiten werden
gesehen, benannt und zu lösen versucht. „Schuld ein(zu)ge-
stehen und sich der Vergebung Gottes an(zu)vertrauen", als „aus
dem Evangelium gewonnene Einsicht", muß den kirchlichen
Umgang mit straffällig gewordenen Menschen bestimmen (81).

Der 3. Teil der Denkschrift dient der Konkretion des theologisch
Geforderten. Der rechtliche Rahmen, Gefängnisseelsorge,
Straffälligenhilfe, notwendige Änderungen und Weiterungen
werden in den Blick genommen. Ein Schluß ist diesem Abschnitt
angefügt, der - unter Anspielung auf die Anfänge abendländischer
Pädagogik, durch Sokrates - christlichem Denken eine Funktion
bei der Gewinnung von Täter-Opfer-Beziehungen zuweist (122).
Die Denkschrift will zu dieser Funktion beitragen und übernimmt
damit faktisch „Hebammenfunktion", wenn sie u.a. vom christlichen
Denken sagt:.....Indem Gemeinden es wagen, zu... Orten der

Offenheit, Vertrauensbildung und Versöhnung zu werden, dienen
sie dem sozialen Frieden. Sie werden aber auch die Erfahrung
machen, daß ihr geistliches Leben lebendiger wird..." (124).