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Ausgabe:

1993

Spalte:

952-953

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Stichel, Rainer

Titel/Untertitel:

Die Geburt Christi in der russischen Ikonenmalerei 1993

Rezensent:

Thümmel, Hans Georg

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 11

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der Verkündigung..., indem sie Bachs musikalische Predigt wieder
hören lehrt" (8). Auf 160 Seiten Autorentext folgen nicht
weniger als 70 Seiten eines Faksimile-Teils mit Quellenstücken
aus der lutherischen Orthodoxie. Diese ermöglichen dem Leser,
weithin Unbekanntes kennenzulernen, um dann kritisch würdigend
nachzuvollziehen, was die Vff. schwerpunktmäßig unternehmen
: die hermeneutische Erschließung der Kantaten im
Kontext der Geschichte von Theologie und Frömmigkeit.

Einleitend wird zunächst an Luthers Musikverständnis ebenso
wie an seiner Predigtlehre die Bedeutung der Affekte hervorgehoben
. Und zwar ist es hier wie dort die Rhetorik, welche Her/
und Willen bewegt. Bach wird als in dieser Tradition stehend
gesehen. Die Einleitung beschreibt weiter das komplexe Bild lutherischer
Orthodoxie um 1700, die Bachs theologische Bildung
prägte. Strenge Verbalinspirationslehre einerseits, eine „spezifisch
protestantische Mystik des Hörens" (19) andererseits verbanden
sich mit jener seit Luther entwickelten Hermeneutik des
zweifachen Schriftsinns, die in der Auslegung auf die „Historia"
sogleich die Vergegenwärtigung des „für mich geschehen" folgen
, damit aber intellektuelle und affektive Momente beieinanderbleiben
ließ. Das „hermeneutische Plus" von Bachs Musik
gegenüber dem Text schließlich sehen die Vff. häufig in erhöhter
Vergegenwärtigung deutlich werden, daß heißt auch in der
Antizipation dessen, was dort als noch ausstehend dargestellt
wird.

Den vier Kantaten, die im Hauptteil des Buches im Blick
zunächst auf den Text, danach auf die Komposition von Satz, zu
Satz abgeschritten werden, ist gemeinsam der Bezug zum Esto-
mihi-Evangelium aus Lukas 18. Es handelt von Jesu dritter Leidensankündigung
und der Heilung des Blinden zu Jericho. Die
Besprechung von Kantate 22 „Jesus nahm zu sich die Zwölfe"
ist überschrieben „Verstehenshilfe". Damit wird genau bezeichnet
, was Thema des Werkes ist: Die Jünger damals und heute
verstehen nicht - „wer hier verstehen will, der muß mitgehen.
Wie man gelegentlich fragt, ob einer mitkomme, und meint, ob
er verstehe" (37). Derartiges Beim-Wort-Nehmen der Sprache
ist eine Stärke des Buches und entspricht, wie die Quellen im
Schlußteil zeigen, barocker Predigtkunst. Daß das Mitgehen in
Wahrheit ein Gezogenwerden auf den Kreuzesweg ist, sagt der
Kantatentext mehrfach; die Autoren beleuchten das Motiv des
„Trahe me post te" vielfältig aus Bibel und Tradition. Die Interpretation
der Musik hebt besonders die musikalisch-rhetorischen
Elemente hervor, welche ja Bild und Affekt gleichermaßen umfassen
. So können Bachs Akzentsetzungen benannt werden,
etwa die Haltetöne mitten in dem von „Erkenntnisfreude" bewegten
Satz 4 als Hypotyposis (Abbild) für „Friede" und „ewiges
Gut" (52). Daß im Chorteil von Satz 1 „Unregelmäßigkeiten
das Unverständnis der Jünger sinnfällig machen" (41), kann
freilich nicht zutreffen: der Teil ist, anders als die Analyse im
Buch zeigt, völlig regelmäßig gebaut (a-b-a-b-c).

Kantate 23 „Du wahrer Gott und Davids Sohn" ist überschrieben
„Leibeshilfe"; als ihr Thema wird formuliert: „Der
ins Leiden gehende Herr nimmt sich der Leidenden an" (55). Er
kann das kraft des „vere deus - vere homo", also kraft seiner
zwei Naturen. Diese werden in den je zwei Gesangs- und Instrumentalstimmen
musikalisch symbolisiert gesehen. - „Ster-
bchilfe" überschreiben die Vf. ihre Interpretation der Choralkantate
127 „Herr Jesu Christ, wahr' Mensch und Gott". Erneut
steht das „vere deus - vere homo" zentral: Gott selber (80), dessen
(musikalisch so ergiebige) Thematisierung als eines für den
Glaubenden nicht mehr zu fürchtenden in diesem Werk damit
einleuchtend gemacht ist. - Kantate 159 „Sehet! Wir gehn hinauf
gen Jerusalem" schließlich wird „Lebenshilfe" überschrieben
. „Auf das Zusehen kommt alles nun an", auf „das Gedächtnis
des Heilswerkes Jesu", mit Heinrich Müller gesprochen: auf
„unsere Passions=Arbeit" (123). Die Vff. assoziieren als Ort
solchen Gedächtnisses sicher zu Recht das Abendmahl; daß

aber davon expressis verbis „der Text spricht" (151), ist nicht
ersichtlich.

Die Fülle der theologischen, vor allem aber der musikalischen
Beobachtungen war hier nur anzudeuten. Die Vit. sprechen abschließend
„vom vierfachen Nutzen der Passion" (168), auf die
Komplementarität der Kantaten anspielend. Diese auch für andere
Kantatengruppen aufzuzeigen und fruchtbar zu machen,
sehen sie als Aufgabe weiterer Forschung. Ihr Buch ist wichtig.
Denn es fordert auf zur Auseinandersetzung mit dem Grundlegenden
, das Bach und seine Librettisten verband.

Gifhorn Ulrich Meyer

Stichel, Rainer: Die Geburt Christi in der russischen Ikonenmalerei
. Voraussetzungen in Glauben und Kunst des christlichen
Ostens und Westens. Stuttgart: Steiner 1990. 176 S.. l)2
Taf„ 1 Farbtaf. 4<>. geb. DM 22 - ISBN 3-515-04273-3.

St. legt ein Werk vor, das im wesentlichen aus zwei Teilen
besteht. Zunächst werden die Vorstellungen der byzantinischen
Kirche von der Geburt Christi, ihren Begleitumständen und den
Ereignissen zwischen Verkündigung und Flucht nach Ägypten
und Kindermord in Bethlehem dargelegt, wobei besonders die
Frühzeit gewürdigt wird. St. stellt die Fülle spätjüdisch-frühchristlicher
Tradition (vor allem auch im Protevangelium Jaco-
bi) heraus. Dann wird auf der Grundlage eines Kataloges von
über hundert Denkmälern der russischen Ikonenmalerei des 16.-
19. Jh.s eine Darstellung der Geburt Christi in der russischen
Ikonenmalerei gegeben. Vorangestellt sind diesem Teil Ausführungen
über das Geburtsbild in Byzanz (66-70), worin vor allem
Bildbeschreibungen, kaum Denkmäler gewürdigt werden.

Dieses Vorgehen wie einige andere Besonderheiten des Buches
werden erst verständlich, wenn man nach den tieferen Beweggründen
des Vf.s fragt, die freilich meist nur in Nebensätzen
zur Sprache kommen. St. will im Gegensatz zu heutiger Verarmung
die Fülle alter Tradition aufweisen. Und er geht davon
aus, daß der breite Strom des Traditionsgtitcs seit den frühesten
Zeiten in der Ostkirche allezeit lebendig gewesen sei. Dazu
gesellt sich die Vorstellung, daß der breiten Legendentradition
eine ebenso breite Bildtradition ensprechen müsse.

So erklärt sich, daß zwischen den Bildern und den Texten,
von denen her sie gedeutet werden, mehr als ein Jahrtausend
liegt. Immerhin bilden die frühen Vorstellungen zur Geburt
Christi das Stratum, auf dem die russische Ikone der Geburt
Christi erwächst.

Inhalt dieser Tradition sind dann Aussagen, von denen ein
wichtiger Teil freilich nicht unmittelbar bildwirksam werden
konnte oder zum Bildschema in Spannung stand: die Jungfräulichkeit
Mariens in partu, das schmerzlose Gebären Marias (dem
das Liegen im Wochenbett zu widersprechen scheint), die Hebamme
(die eigentlich nicht nötig war), das erste Bad Christi (das
sich bei einer „reinen" Geburt erübrigte), der Zweifel Josephs,
und dann vor allem die mit dem Kindermord verbundenen Ereignisse
der Errettung Johannes des Täufers und des unter dem
Feigenbaum versteckten Nathanael.

Die Vorstellung von der Breite der Tradition hat auch die
Bildauswahl bestimmt. St. handelt nicht eigentlich über die
Geburt Christi, sondern über ..Sammelbilder der Geburt Christi
", also jene Ikonen, auf denen die meisten Szenen der genannten
Tradition dargestellt werden. Diese Bilder gelten ihm
als das Ursprüngliche, so daß der geringere Szenenbestand jeweils
als Weglassung und Reduktion beschrieben werden kann
(vgl. z.B. 88). Und St. setzt voraus, daß die frühen Beispiele der
„Sammelbilder" verlorengegangen sind (134), und übergeht im
Katalog die einfacheren Denkmäler des 14. und 15. Jh.s. also
etwa die beiden Ikonen der Sammlung Korin. zwei Ikonen der