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Ausgabe:

1993

Spalte:

947-948

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Titel/Untertitel:

Le livre religieux et ses pratiques 1993

Rezensent:

Engemann, Wilfried

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Seite 1

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947

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 11

948

nahezu niemanden gab, der aus dem Glauben gegen die Wiederbewaffnung
kämpfte und aus dem Glauben auch die Position der
Amtskirche in dieser Frage kritisierte. Erst wenn man sich diesen
Befund klarmacht, erkennt man, welches Gewicht dem Kritiker
Reinhold Schneider in dieser zentralen politischen Frage
der jungen Bundesrepublik zukam." Der den Band komplettierende
Beitrag von Ludger Lütkehaus unter dem Titel „Eine
große Gnade ist die Nacht" ist den „Umrissen einer Konstellation
" gewidmet: Mit psychologischem Feingefühl entwickelt der
Vf. ein tiefgreifendes Verständnis für Engagement und Widerspruch
bei Reinhold Schneider aus dessen pessimistischer
Grundstimmung heraus.

Dresden Ingo Zimmermann

Bödeker, Hans Erich, Chaix, Gerald, u. Patrice Veit [Hg.]: Le
livre religieux et ses patriques. Etudes sur l'histoire du Ii vre
religieux en Allemagne et en France ä l'epoque moderne. Der
Umgang mit dem religiösen Buch. Studien zur Geschichte des
religiösen Buches in Deutschland und Frankreich in der
frühen Neuzeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991.
415 S. gr.8° = Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts
für Geschichte, 101. Lw. DM 86-ISBN 3-525-35638-2.

Mit diesem Buch ist den Hgg. und Autoren ein Werk gelungen
, dessen Adressaten- bzw. Interessentenkreis kaum umfassend
genug gedacht werden kann. „Der Umgang mit dem religiösen
Buch" - ein Stoff, der zunächst den Eindruck erwecken
könnte, lediglich ein paar Spe/.ialissima der Literaturgeschichte
zu traktieren - entpuppt sich bei fortschreitender Lektüre als ein
Thema, in dem sich die verschiedensten Stränge der Kirchen-,
Konfessions- und Religionsgeschichte, der Kunst-, Literatur-
und Kulturgeschichte, der Sozial- und Mentalgeschichte usw.
kreuzen.

Von daher ergibt sich der ungewöhnlich hohe Informationswert
des Buches für jeden, der selbst in den genannten Wissen-
schaftsbereichen arbeitet und an Details interessiert ist, die zugleich
für größere Zusammenhänge aussagekräftig sind.

Der Umstand, daß das Werk auf eine Tagung des Max-
Planck-Instituts für Geschichte (1988) zurückgeht und Beiträge
von 20 Autoren vereint, hat erfreulicherweise nicht zu einer
disparaten Aneinanderreihung historischer „Fündlein" geführt.
Sondern die Hgg. haben das Thema in einer stringenten Gliederung
entfaltet: L Der Umgang mit dem religiösen Buch in der
frühen Neuzeit. Anmerkungen zu einem Forschungsthema - II.
Produktion, Distribution und Rezeption religiöser Bücher - III.
Das religiöse Buch als Symbol einer kulturellen und konfessionellen
Identität - IV. Das religiöse Buch und die Katechese - V.
Aneignungen von Gebets- und Gesangbüchern - VI. Frauen und
religiöse Bücher - VII. Das religiöse Buch und Verinnerli-
chungsprozesse.

Auf dem Hintergrund der gegenwärtig in verschiedenen Geisteswissenschaften
neu entfachten rezeptionsästhetischen Debatte
kommt der in diesem Band vollzogenen Erweiterung der
traditionellen Buchgeschichte zur Lese- und Lesergeschichte ein
besonderes Gewicht zu. „Die historische Leserforschung will
nicht nur das Gelesene, also die Lektüre in der Vergangenheit
ermitteln, sondern auch die Sozialgeschichte der Leser und die
Geschichte der Lesegewohnheiten rekonstruieren" (14). Die Geschichte
des Lesens wird also erforscht als Geschichte einer kulturellen
Praxis.

Aus dieser Perspektive ergeben sich für fast alle der oben
genannten Wissenschaftsbereiche Präzisierungen und Korrekturen
; Vorurteile über bestimmte Zusammenhänge verlieren ihre
Grundlage. Das betrifft z.B. die fälschlicherweise unterstellte
Zuordnung von herrschender und darum lesen könnender Elite

einerseits und zur Arbeit herangezogener Masse, die angeblich
nicht lesen kann und will, andererseits. Auch die Einschätzung
der in der homiletischen Literatur bisweilen nachget ratterten
„Popularität der Bauernpredigten" (vgl. 194-220) bedarf der
Revision: Verschiedene Quellen über die Verbreitungsschwierigkeiten
(bzw. die Lektüre-Hindernisse entsprechender Schriften
) lassen darauf schließen, daß die Produktion dieser Bücher
an ihren Adressaten vorbeiging.

Die Beiträge sind im einzelnen so aulbereitet, daß sich an vielen
Stellen interessante Fragestellungen zu gegenwärtigen, in
gewisser Weise parallelen Prozessen geradezu aufdrängen:

Sind die Hintergründe der „volkstümlichen Opposition" (275)
gegen eine Reform der Gesangbücher in Deutschland um 1750
nicht denen ähnlich, die gegenwärtig die Einführung eines neuen
Gesangbuchs - unter anderem mit dem Verdacht ketzerischer
Aufgeklärtheit - mancherorts zu erschweren scheinen? Oder:
Wenn seinerzeit die Erfindung des Buchdrucks und später die
Industrialisierung der Buchproduktion nicht nur den Einfluß des
religiösen Buches erweitern konnten, sondern auch das Lektüreverhalten
(„les pratiques de la lecture religieuse", 38) beeinflußten
, wie ist von solchen Einsichten her die Chance/Gefahr religiöser
Literatur heute zu beurteilen? Zeigt sich in dem gegenwärtig
florierenden Vertrieb bestimmter lieblich bebilderten
Broschüren - im Medienzeitalter der grellen Effekte! - ein
heimlicher Protest der Käufer gegen den Informationsterror oder
Ergebung in eine Trost verheißende Werbestrategie? Oder:
Inwieweit ist die Entwicklung der Erbauungsliteratur des 17.
Jh.s zur alltäglichen Gebrauchsliteratur der Frauen dieser Epoche
für die kulturanthropologische Einschätzung jenes Prozesses
von Belang, der sich heute vollzieht, wenn Frauenzeitschriften
und Kataloge Botschaften im Sinne einer „Hertz- und Seelenspeise
" (vgl. 299) übermitteln und dabei ihrerseits einem
Funktionswandel unterliegen: Sie werden als religiöse Schriften
gelesen und avancieren zu einer eigenen Art religiöser Gebrauchsliteratur
.

Diese Bemerkungen sollen zugleich erkennen lassen, daß die
in diesem Band vereinten deutsch-, französisch- und englischsprachigen
Beiträge (wobei die Aufsätze in deutscher Sprache
überwiegen und fremdsprachigen Beiträgen ein Resümee in
Deutsch angefügt ist) nicht nur für Fachleute wie Historiker.
Soziologen oder Theologen usw. „lesbar" sind, sondern auch
dem Laien interessante Zusammenhänge vermitteln und ihn
womöglich in eine Auseinandersetzung mit seiner eigenen Art
des „Umgangs mit dem religiösen Buch" verwickeln können.
Und das - diesen Wert sollte man gerade bei einem hochwissen
schaftlichen Werk nicht unterschätzen - auf eine unterhaltsame
Weise.

Greit'swalu Wilfried Engemann

Kruse, Martin |Hg.|: Die Stalingrad-Madonna. Das Werk
Kurt Reubers als Dokument der Versöhnung. Hannover:
Luth. Verlagshaus 1992. 104 S. m. Abb. z.T. färb. gr.8o. Pp.
DM 29,80. ISBN 3-7859-0643-9.

Mit dem Maler der Stalingrad-Madonna, die in der Kaiser
Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin zu sehen ist, wird nicht
nur ein relativ unbekannter Künstler in dem anzuzeigenden
Band vorgestellt, sondern auch eine Gestalt der evangelischen
Kirche aus der Zeit von Naziherrschaft und 2. Weltkrieg, die
unsere Kenntis dieser Epoche erweitert und vertieft. Reuber war
Michaelsbrudcr, stand theologisch Friedrich Heiler nahe und
kam von dieser Position her /u einer Ablehnung der nationalsozialistischen
Ideologie. Einen Teil seiner geistlichen Erfahrungen
und ganz besonders diejenigen im Kessel vor Stalingrad
drückt er in seinen Bildern aus. von denen die Madonna das be-