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Ausgabe:

1993

Spalte:

939-941

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Bieber, Anneliese

Titel/Untertitel:

Johannes Bugenhagen zwischen Reform und Reformation 1993

Rezensent:

Gummelt, Volker

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 11

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glauben als einzigen Weg zur Seligkeit. Möglicherweise will er seine Leser
überzeugen, das Klosterleben aufzugeben.

A. faßt seine Ergebnisse in 31 Thesen zusammen, gruppiert in
vier Abschnitten. Im ersten Abschnitt bündelt er die mehr formalen
Beobachtungen zu den Handwerkerschriften als literarischem
Problem der frühen Reformationszeit (1523-1525); Städtisches
Phänomen, Autoren aus den Mittelschichten, Versiegen der
Schriften mit der Verfestigung eines evangelischen Kirchenwesens
u.ä. Im zweiten Abschnitt werden nur Erkenntnisse aus der
Sekundärliteratur summiert (Die Situation der Handwerker am
Vorabend der Reformation). Im dritten Abschnitt stellt A. seine
Beobachtungen zu den Verfassern zusammen: Nur Meister, 3
davon mit Lateinkenntnissen (Sachs, Schönichen, Staygmayer), 4
stammen aus Großstädten, 5 aus Mittelstädten und nur Schönichen
aus einer Kleinstadt, fast alle gehörten zu den Meinungsführern
der evangelischen Bewegung ihrer Stadt, 3 beteiligten sich
am Bauernkrieg (Ziegler, Lotzer, Reychart), 2 waren als Prediger
tätig (Ziegler, Hoffmann; Radikalisierung, nachdem sie nicht integriert
werden konnten). Im vierten Abschnitt wendet sich A. dem
Inhalt und der Theologie der Handwerkerschriften zu. Primär
geht es um Fragen des christlichen Glaubens und Lebens. Alle
Autoren vertreten reformatorische Auffassungen (Orientierung an
Luther). Sachs, Ziegler, Lotzer, Hoffmann empfinden die Gegenwart
als besonders heilvolle und gnadenreiche Zeit. Für alle gilt
die Bibel als einzige Richtschnur (mit Unterschieden in der Hermeneutik
). Ziegler, Hoffmann und Reychart beschreiben den
Heilsweg auch mit Hilfe von mystischen Vorstellungen und Begriffen
. Nur bei Ziegler klingen bereits die innerevangelischen
Sakramentsstreitigkeiten an. Gute Werke werden als Glaubensfrucht
und Nächstenhilfe verstanden. Beichte, Fastenzwang, Ablaß
und die Verweigerung des Laienkelches werden abgelehnt
(These 4.9). Alle 10 Autoren sahen sich durch das Priestertum
aller Gläubigen legitimiert. Wenn A. zur These 4.9 hinzufügt, „Es
sind Probleme, die jeden Laien unmittelbar betrafen" (330), so
hat er in gewisser Weise zugleich Bedeutung und Grenze seiner
Arbeit insgesamt charakterisiert. Die soziologische Zuordnung
hat keine wesentlichen Folgen für eine inhaltliche Profilierung
dieser Flugschriften. Die Bedeutung der Publikation von A. liegt
in seinen Untersuchungen zu den einzelnen Autoren und ihren
Schriften. Zu allen 10 Autoren und zu den 28 Flugschriften hat er
weiterführende Beiträge vorgelegt. Mit seinen Beobachtungen
zur Verwendung von Bibelübersetzungen (331-347) hat er der
Flugschriftenforschung wertvolle Hinweise gegeben. Die sorgfältige
Bibliographie zu den 28 Flugschriften verdient ebenfalls hervorgehoben
zu werden.

Addenda und corrigenda: Hoffmanns „Neue Draim und Gesicht" liegen im
Druck vor (TAE IV, 352-369), desgleichen Günter Voglers Darstellung über
Nürnberg (Berlin 1982). Die „Deutsche Theologie" ist nach der kritischen
Ausgabe von Wolfgang von Hinten zu verwenden. Die bekannte Flugschriftenbibliographie
stammt von Arnold, nicht von Jürgen Kuczynski. Zu Lotzer
und Richsner wäre noch auf die germanistische Arbeit zu verweisen: Josef
Schmidt: Lestern, lesen und lesen hören. Bern 1977.

Berlin Siegfried Bräuer

Bieber, Anneliese: Johannes Bugenhagen zwischen Reform
und Reformation. Die Entwicklung seiner frühen Theologie
anhand des Matthäuskommentars und der Passions- und Auferstehungsharmonie
. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993.
330 S. m. 23 Abb. gr.8° = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte
, 51. Kart. DM 94,-. ISBN 3-525-55159-2.

Nach den beiden Untersuchungen von H. H. Holfelder zu Bu-
genhagens Psalmenkommentar (1974 erschienen, LuJ 1976 Nr.
436) bzw. zu dessen Paulusauslegung (1981 erschienen, LuJ 1984
Nr. 1196) ist die Dissertation von A. Bieber die nunmehr dritte
Monographie, die sich bemüht, die Entwicklung der Theologie

Bugenhagens anhand seiner Schriftauslegung nachzuzeichnen. B.
untersucht nicht wie Holfelder eine an der Wittenberger Universität
vorgetragene und dann im Druck veröffentlichte Exegese,
Gegenstand ihrer Studien ist eine 215 Blätter umfassende Reinschrift
der frühesten erhaltenen Schriftauslegung des Pomeranus.
Im Rahmen des biblischen Lektorats, das Bugenhagen seit 1517
neben seinem Amt als Treptower Schulrektor im nahegelegenen
Prämonstratenserkonvent Belbuck innehatte, entstand 1520/21
die Matthäusexegese, die anstelle der Kommenticrung von Mt
26-28 eine Passions- und Auferstehungsharmonie aus allen vier
Evangelisten bietet. Spätestens seit 1934/35 ist der Forschung
durch H. Alberts (ThStK 106, 61-72) das heute wieder in der
Marienbibliothek Stendal aufbewahrte Manuskript Bugenhagens
bekannt, doch erst B. legt mit ihrer Arbeit eine breitere Untersuchung
zu diesem Kommentar vor.

Leider wird in der Einleitung (15-24) auf eine genauere Beschreibung
des Manuskriptes unter Hinweis auf Alberts verzeichtet
(dies erschwert die Lektüre insgesamt). Statt dessen gibt
B. eine kurze Vorstellung der bisher untersuchten Zeugnisse aus
Bugenhagens Treptower Jahren, um dann mit Recht die Bedeutung
des Matthäuskommentars und der Passionsharmonie als ein
Dokument hervorzuheben, in dem erstmalig die Öffnung des
Bibelhumanisten zu Positionen Luthers nachweisbar ist. Von
daher gliedern sich folgerichtig B.s einzelne Studien in zwei
große Hauptteile, in denen zum einen mehr der im Bannkreis der
Reform des Erasmus stehende, zum anderen mehr der die reformatorischen
Gedanken Luthers aufnehmende Bibelauslcger Bugenhagen
beleuchtet wird.

Zum ersten Teil. Die enge Bindung Bugenhagens an die Phi-
losophia Christi des Erasmus und insbesondere an dessen Verständnis
vom Evangelium, drückt beispielhaft die zweiteilige
Zitatensammlung (vor allem aus Werken Rotterdamers) aus, die
Bugenhagen seiner eigentlichen Auslegung voranstellt. B. referiert
diesen Abschnitt zu Anfang des ersten Kapitels ausführlich
(28-41). Wünschenswert wäre hier eine Textwiedergabe des
betreffenden Abschnittes gewesen. (Die auch in den weiteren
Kapiteln sinnvoll eingefügten Abbildungn einzelner Seiten aus
der Bugenhagen-Handschrift sind nur dem geübten Leser dienlich
.) Einen guten Einblick in Bugenhagens exegetische „Werkstatt
" bieten B.s Nachweise der Benutzung von verschiedenen
Werken des Erasmus und der Kirchenväter (vorzugsweise
Hieronymus, Ps.-Chrysostomus, Augustinus und Cyrill von Alexandrien
). Letztere kannte Bugenhagen nicht nur durch die
Glossenliteratur des Mittelalters, sondern durch eigene Studien.
Breiten Raum nehmen die mit hoher Sachkenntnis geschriebenen
Ausführungen B.s zu Bugenhagens Passions- und Auferstehungsharmonie
ein (60-117). B. kann überzeugend veranschaulichen
, daß Bugenhagen in diesem Teil seiner Auslegung vor
allem die etwa 1490-1520 erschienenen Passionsharmonien zur
Grundlage nahm. Zudem zeigt sie, wie die harmonistische Arbeit
Bugenhagen „zum Erweis der historischen Wahrheit der
Schrift" (vgl. 117) diente. (Wäre hier nicht besser für „historisch
" „theologisch" einzusetzen?)

In einem zweiten Kapitel untersucht B. Bugenhagens Auffassung
vom Bußsakrament sowie ekklesiologische Aussagen des
Kommentars. Deutlich wird, daß Bugenhagen hierbei von Positionen
der röm.-kath. Kirche seiner Zeit abrückte. Abermals belegt
B. eine starke Anlehnung an Erasmus und die patristische
Literatur. Im dritten Kapitel referiert B. die Erklärung der Bergpredigt
, die einen Schwerpunkt des Kommentares bildet. Auch
an dieser Stelle, wiederum zur Straffung der Arbeit, wäre eine
Textwiedergabe der gesamten Exegese von Mt 5-7 angebracht
gewesen. Interessanterweise vertritt Bugenhagen in der Auslegung
nicht mehr die mittelalterliche „Zwei-Stufen-Ethik", sondern
will die Aussagen der Bergpredigt auf alle Christen bezogen
wissen. (Bugenhagen trug diese Matthäusauslegung in
einem Prämonslratenscrstift vor!)