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Ausgabe:

1993

Spalte:

72-74

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Stein, Albert

Titel/Untertitel:

Kirchenrecht in theologischer Verantwortung 1993

Rezensent:

Winter, Friedrich

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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 1

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Der dritte Teil schließlich umfaßt Beitrage über „Gottesdienst
und Gemeindeaufbau" von Wolf-Dietrich Berner und Matthias
Riemer, über „Initiativgruppen, Basisgemeinde und Parochie"
von Andreas Ebert und schließlich ein Gespräch über „Die
Bedeutung der Gemeindeleitung für den Gemeindeaufbau" von
Sybille Kriebitzsch, Wolf-Dietrich Berner und Rainer Theucr-
kauff. Ein letzter Beitrag über „Alltagserfahrung in der Mentalität
einer Großstadt" von Armin Kraft schließt den Band ab.

Schon bei diesem kurzgefaßten Überblick wird deutlich, wie
breitgespannt das Themenspektrum dieses Bandes und damit
auch zugleich die Reichweite der missionarischen Doppelstrategie
der VELKD ist.

Neue Impulse hat die Diskussion um diese Strategie durch
die Wende in der früheren DDR erhalten. Viele Beiträge des
Bandes bringen die Unruhe und die einsetzenden Gesprächsprozesse
in diesem Zusammenhang zum Ausdruck. Die Unterwegserfahrungen
in Ost und West in den letzten Jahrzehnten,
so heißt es gleich im Vorwort, sind höchst unterschiedlich. Der
missionarische Grundauftrag unserer Kirche läßt sich nicht in
eine Einheitstheologie einschmelzen. Die jeweilige seelsorgerliche
Situation verlangt spezifische Akzentuierungen. Sie fordert
die Phantasie immer wieder neu heraus. Eben dies belegt
der Band in einer Breite, die vielleicht einige von Vertreten)
der missionarischen Doppelstrategie sogar nicht erwartet hätten
.

Nicht auf alle Beiträge kann hier eingegangen werden. Doch
einige Beispiele seien herausgegriffen.

So der Beitrag von Rainer Blank, dem Leiter des Gemeindekollegs
in Celle. Ihm gelingt es sehr schön herauszuarbeiten, wie
herkömmliche Gemeindearbeit in kleinen homogenen Gruppen
in der Krise steckt. Das Interesse, sich auf unbestimmte Zeit an
eine Gruppe zu binden, nimmt ab. Das Ge-meindekolleg antwortet
nun auf diese Situation mit projektorientiertem Gemeindeaufbau
. Ein Projekt wird als ein Prozeß begriffen, der an einem
bestimmten Punkt in der Gemeinde ansetzt und aus der Bereitschaft
zur Veränderung erwächst, die den Beteiligten angemessen
sein soll. Zu solchem Prozeß gehört zunächst einmal Training
darin, das Leben in der Gemeinde so wahrzunehmen, wie
es ist. Um Schritte zur Veränderung in Richtung der reformatorischen
Vision des Priestertums aller Gläubigen zu gehen, sind
Krisen unvermeidlich. Ohne Krisen gibt es keine Veränderung.
Wenn etwas in Bewegung kommt, wird die stabile Lage gestört.
Chaos bietet die Chance zu neuen Formen. Leben ist nur voll
gültig da, wo ein gewisser Chaosanteil zugelassen ist. Aber derartige
Erfahrungen werden immer wieder leicht abgedrängt. Die
Bereitschaft zur Veränderung wird zugunsten einer angstfreien
Gruppenheimat aufgegeben; man schottet sich von einer Umwelt
ab, die komplex ist und überfordert. „Die Gefahr, daß kirchliches
Le-ben nur von einem Typus oder einer gesellschaftlichen
Schicht bestimmt wird, ist immer gegeben. Soll die missionarische
Be-wegung der Kirche lebendig bleiben, muß sie ihre Identität
dem ganz anderen Menschen aussetzen - sie wird die Erfahrung
einer erweiterten Identität machen." (64)

Gleichwohl läßt sich Spiritualität nur in homogenen Gruppen
lernen. Es braucht hierfür Freiräume, die aus klaren Verabredungen
entstehen, die einen Mutterboden des Vertrauens
schallen, auf dem das Evangelium einen Nährboden findet.
(65)

Als zweites Beispiel: die Überlegungen von Peter Stoll zum
Kirchenaustritt bzw. zur Kirchenmitgliedschaft. Stoll entwickelt
hier in einer sehr differenzierten Weise den Prozeßcharakter, den
auch der Entschluß zum Kirchenaustritt hat. Es wird deutlich,
wie sehr hier verschiedene Faktoren ineinandergreifen. Die personal
vermittelte, konkrete Kirche vor Ort im ländlichen Raum
hat eine ganz andere Bedeutung als die eher medial vermittelte
kirchliche Präsenz im großstädtischen Bereich. Während die

Reichtweite im ersten Fall gering bleibt, ist sie im zweiten Fall
groß.

Die Möglichkeit jedoch, stabilisierend auf Kirchenmitgliedschaft
einzuwirken, ist genau umgekehrt. Stoll diskutiert in
sehr differenzierter Weise sozialwissenschaftliche und organisationstheoretische
Sichtweisen auf die Kirche. Dabei sind
natürlich Bruchstellen deutlich, denn der Eintritt in die Gemeinde
als Taufe kann nur sehr schwer als Eintritt in eine auch
sonst übliche Organisation begriffen werden.

Schließlich ein drittes Beispiel: der Beitrag von Hartmut
Ahrens über Umkehr und Bekehrung. Muß Glaubensverkündigung
das Leben verändern wollen? Ahrens geht es darum, den
Begriff der Bekehrung plausibel zu erfassen. Dabei läßt auch er
sich darauf ein, daß Individualisierung und Differenzierung
sowie Subjektivität heute den Rahmen bestimmen, in den sich
der Glaube einpaßt. In Aufnahme von Thesen von Falk Wagner
definiert er: „So bedeutet die Bekehrung, zusammenfassend gesagt
, die Neukonstitution des Menschen. In ihr öffnet sich der
Mensch, angesichts des Scheiterns seiner unmittelbaren Selbstkonstitution
als durch die ihm geschenkte Freiheit begründet."
In Aufnahme eines Satzes von Brunner: „Es ist beides wahr:
Wir müssen umkehren und Gott allein ist es, der das Neue
schafft." (114)

Der Prozeß der Bekehrung wird so als ganzheitlicher Vorgang
begriffen, der sich nicht auf eine Sinnesänderung oder gar
eine moralische Besserung reduzieren läßt. „Bekehrung ist die
Gewinnung einer neuen Identität, die unter den veränderten
Lebensperspektiven heranwächst." (114) In diesem Sinne kann
Ahrens dann auch Bekehrung als Ziel des Gemcindeaufbaus
begreifen.

Gemeindeaufbau dient nur dazu, Räume zu schaffen, in denen
Menschen die Hinwendung Gottes zum Menschen erfahren
können, in denen Bekehrung als ein Prozeß seinen Anfang
nimmt bzw. gefördert wird. (116).

In diesem Zusammenhang sind Orientierungen an den Prinzipien
der Offenheit, der Herrschaftsfreiheit, der Partizipation
und der Solidarität erforderlich. Ahrens bezieht sich ausdrücklich
auf Christoph Bäumler.

Der Band bietet über diese drei Beispiele hinaus erheblich
mehr an Material zur Auseinandersetzung mit Projekten der
missionarischen Doppelstrategie.

Es ist faszinierend zu sehen, wie hier mit einer großen Offenheit
und dem Bemühen um Plausibilität Bilanz gezogen
wird. In dieser Hinsicht wird dieser Band sicherlich auch dazu
beitragen, bestehende Schemata in der innerkirchlichen Diskussion
zu relativieren und zur Verständigung zu dienen.

Coppenbrügge Gerhard Wegner

Kirchenrecht

Stein, Albert: Kirchenrecht in theologischer Verantwortung.

Ausgewählte Beiträge zu Rechtstheologie, Kirchenrechl und
Staatskirchenschaft, hg. von K. Schwarz. Wien: Verlag des
Verbandes der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs
1990. IX, 223 S., 1 Taf. gr.80 = Kirche und Recht, 18. Karl.
öS 297.-. ISBN 3-85369-795-X.

Erschienen ist das Buch zum 65. Geburtstag von Albert
Stein. Es ist schon bewegend, seine außergewöhnliche Biographie
kennenzulernen, die durch den Hg. im Vorwort (VII), aber
auch im letzten Beitrag durch den Autor selbst zur Darstellung
gelangt: „Rückblick auf meine Wiener Jahre" (207-215). Jura-