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Ausgabe:

1993

Spalte:

870-872

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Mühlen, Heribert

Titel/Untertitel:

Neu mit Gott 1993

Rezensent:

Toaspern, Paul

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869

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 10

870

Zur Lösung dieser selbstgestellten Aufgabe geht er so vor,
daß er mit einem historischen Überblick zur Geschichte der
Visitation beginnt (13-31). Seit den Tagen der Apostel hat es
den geschwisterlichen Dienst der visitatio gegeben; aber schon
die ntl. Tradition zeigt, wie unterschiedlich das Interesse solcher
Besuche sein kann und wie sehr es vom Gemeindebild der Visitatoren
bestimmt ist.

Besonders wichtig ist für K. die Neufassung des Visitationsverständnisses
in der Reformation und in der relativ kurzen
Epoche der Bekennenden Kirche. Hier sieht er die Schwerpunktsetzung
wirksam, die auch ihm vorschwebt: die Förderung des
Gemeineaufbaus und die Beteiligung möglichst vieler Glieder
des Gottesvolkes, die nicht der Hierarchie angehören, sondern
„Laien" sind. Dadurch wird zweifellos der Charakter der Visitation
verändert: Sie wird auf eine breitere Basis gestellt und verliert
dadurch den Charakter der Kontrolle von oben.

Die gegenwärtige Diskussion wird von diesem Ansatz her
kritisch gewürdigt. Dadurch wird „die partnerschaftlich-horizontale
Komponente und ihre Bedeutung für ein basisbezogenes
visitatorisches Handeln" (32) zum Kriterium erhoben. Mit Recht
wird darauf aufmerksam gemacht, daß die Visitationspraxis
trotz weiter Verbreitung tiefe Unzufriedenheit hervorruft, wobei
vor allem der administrative Aspekt kritisiert wird. K. folgt
nicht den Autoren, die die rechtlich-administrative Seite der
Visitation betonen und sie signifikant von der seelsorgerlich-
pastoralen Besuchstätigkeit abheben. Er sieht sich dabei auch
durch den ntl. Befund bestätigt, wobei er sich bewußt auf die
paulinische Literatur beschränkt (45-55). Leitbegriff der Betrachtung
ist oikodome, die Auferbauung der Gemeinde. K.
erkennt bei Paulus die Zusammengehörigkeit von Gemeindevisitation
, Gemeindegottesdienst und Gemeindeaufbau.

Deshalb setzt die systematische Besinnung (56ff.) mit der
Reflexion des Gottesdienstes „als Entfaltungsgrundlage für Gemeindevisitation
" (56) ein. Bestätigt wird dieser Ansatz von der
fast durchgängigen Praxis der Visitationsgottesdienstc. K. sieht
die Bedeutung des Visitationsgottesdienstes vor allem in der
Stiftung von Beziehungen, die sich auf die Gestaltung der Visitation
auswirken, ja sie eigentlich erst ermöglichen. So ergibt
sich K.s nähere Definition von „Gemeindevisitation": „Ge-
meindevisitation als Element des Gemeindeaufbaus ist Begegnung
von Regionalkirche und Lokalgemeinde" (62), sie wird
aber „erst vor dem Horizont von Gemeindeaufbau (Oikodome)
sinnvoll" (ebd.). Je mehr Beteiligung der communio sanetorum,
desto sinnvoller wird das visitatorische Geschehen sein. Deshalb
plädiert K. für die Aufnahme von möglichst vielen Laien, also
Nichttheologen, in die zu berufende Visitationsgruppe, dabei
Impulse der Reformation und der BK aufnehmend (vgl. Barmen
III: „Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern" und
das Prinzip der „bruderschaftlichen Leitung"). K. unterstreicht
in diesem Zusammenhang noch einmal die Bedeutung der Beziehung
im Sinne des wechselseitigen „Wahrnehmens" (66ff).

Im umfangreichsten Teil der Arbeit finden sich Gesprächsprotokolle
aus Landgemeinden und einer Großstadtgemeinde:
„Erfahrungsbericht - erlebte Praxis und erwünschte Klarstellung
" (70-132). Obwohl Gesprächsprotokolle stets subjektiv
deutbar sind, ist dieser Teil des Buches doch von unschätzbarem
Wert und m.W. in diesem Themenbereich singulär. Die Analyse
vorliegender Visitationsberichtc /cigt f reilich auch das Ungenügende
der gängigen Vorbereitung und Auswertung von Visitationen
. Während K. das Wissen um die Bedeutung der Visitation
für den Gemeindeaufbau glaubt ausmachen zu können, stellt
er sehr kritische Fragen an die Zusammensetzung der Visitationsgruppen
sowie an Vorbereitung und Auswertung der Visitationen
. Um diesen beiden Übeln abzuhelfen, bietet er abschließend
„Leitlinien für einen Orientierungsrahmen zur Einführung
in die Praxis der Gemeindevisitation" (133ff) und ein
„ergänzungsfreundliches Schema einer Gemeindevisitation" als

„Modellvorschlag" an (141ff), das ich als hilfreich und anregend
bezeichnen möchte, auch wenn man im einzelnen manchen
Schwerpunkt anders setzen möchte als Krause.

Es sei gestattet, aus eigener langjähriger visitatorischer Erfahrung
noch einen Gesichtspunkt hinzufügen zu dürfen, der bei
K. m.E. zu kurz kommt: Das ist das Geltendmachen der „christlichen
Lehre", die nicht nur in der lutherischen Orthodoxie, sondern
bei Paulus selbst und ihm nachfolgend bei Luther eine
große Rolle in der Ausgestaltung der Visitation spielt, gewiß im
Rahmen und unter der Zielstellung der Oikodome und unter
Einbeziehung einer möglichst breiten Gemeindebasis. Doch
auch Schleiermacher, den K. selbst als Zeugen für die synodale
Grundlegung visitatorischen Handelns anführt, hat stets inhaltlich
den Standpunkt vertreten, daß „Kirchenleitung durch Theologie"
geschehe. Der beziehungsstiftende Sinn der Visitation ist für den
Gemeindeaufbau unerläßlich; aber wo gewinnt die Gemeinde den
..Bauplan" für ihr „Haus"? So möchte ich die aus der Architektur
entlehnte Metaphorik K.s aufnehmen. Nicht nur, daß ein Visitationsgottesdienst
gehalten wird, ist entscheidend, sondern was in
der Gemeinde verkündigt wird, gehört auf die Tagesordnung einer
Visitation, zumal ja eben - s. Luther - die Gemeinde vor Ort das
Recht hat, über die Lehre zu urteilen. In diesem Sinne wünschte
ich mir eine Ergänzung sowohl in den „Leitlinien" wie in dem
„ergänzungsfreundlichen Schema einer Gemeindevisitation".
Denn gerade in einer Situation des Wandels gewinnt die Gemeinde
ihr Profil und ihre Identität aus dem Bekenntnis zu dem dreieinigen
Gott, in dessen Namen sie sich versammelt.

Berlin Günter Krusche

Mühlen, Heribert: Neu mit Gott. Einübung in christliches
Leben und Zeugnis. Freiburg-Basel-Wien: Herder 1990. 444
S. 80. Kart. DM 26,-. ISBN 3-451-21834-8.

Der hier vorliegende 444 Seiten umfassende Band des katholischen
Hochschultheologen Heribert Mühlen (Paderborn) versteht
sich als ein Handbuch, das in über fünfzehnjähriger Praxis
entstanden ist. Der Titel „Neu mit Gott" mit dem Untertitel
„Einübung in christliches Leben und Zeugnis" weist genau aus,
was der Autor mit diesem Buch beabsichtigt. Es geht ihm im
Blick auf den einzelnen Menschen um ein Neuanfangen mit
einem bewußten Leben mit Gott, um die Einübung in geistliches
Leben, um die praktische Lebensgestaltung aus dem Glauben
heraus und um Bezeugung des Evangeliums. Dabei ist immer
die persönliche Lebensauslieferung an Gott im Blick, zu der der
Autor in diesem Arbeitsbuch führen will. So geht es im tiefsten
um Hinführung zu heute gelebter Jüngerschaft innerhalb der
Kirche und daraus resultierend um eine Neu-Evangelisierung
unseres Landes.

Das Buch stellt uns insgesamt ein Glaubensseminar mit zwei
Seminarteilen („Gebet und Erwartung", „Lehre und Zuspruch")
vor, das sich über neun, bzw. sieben Wochen hinzieht. Der
Autor nennt als Schwerpunkte dieser Seminararbeit:

- „Vermittlung des von falscher Angst befreienden, biblischen
Gottesbildes,

- Hilfen zur Entdeckung der eigenen Begabungen und Fähigkeiten
und zur Verarbeitung der eigenen Lebensgeschichte vor
Gott,

- Hinführung zur persönlichen Annahme des sakramentalen
Gnadenangebotes Gottes und der Geistesgaben,

- neue Formen christlichen Gemeinschaftslebens,

- Ermutigung zu einem persönlichen Glaubenszeugnis und
zur Evangelisierung,

- Anstöße zu einem gesellschaftlichen und politischen Einsatz
aus der Kraft der christlichen Freiheitserfahrung" (5).