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Ausgabe:

1993

Spalte:

863-866

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Nethöfel, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Theologische Hermeneutik 1993

Rezensent:

Isermann, Gerhard

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863

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 10

864

Existenztheologie Rudolf Bultmanns (Erbfolge Melanchthons)
oder an der Analogielehre Karl Barths (vor den entsprechenden
mittelalterlichen Auseinandersetzungen) zeigen ließe. Die theologische
Problemgeschichte des 20. Jh.s trägt weithin Ausschnitt
-, ja Nachlaß-Charakter. Das 19. Jh. war theologisch reicher
(und spannender), das 18. gedankenschärfer und begriffsfähiger
.

2.2. Die systematische Theologie unseres Jahrhunderts wird
fast ganz als akademisch-geistesgeschichtliches Phänomen dargestellt
. Ob sie das wirklich in diesem Ausmaß gewesen ist und
nicht auch wirkmächtige Gemeinde- bzw. Laientheologie,
bleibt zumindest zu fragen.

2.3. Man wird den abgewogenen Urteilen und Beurteilungen
des Vf.s immer wieder zustimmen, so z.B. zu Jürgen Moltmann
oder Dorothee Solle, aber gesamthaft genommen sind sie
ungleich verteilt und darum doch nicht durchweg überzeugend.
Was etwa an Werner Eiert als „verhängnisvoll" herausgestellt
wird, die (neulutherische) Legitimierung völkischen Heidentums
, hätte gegenüber Emanuel Hirsch mindenstens ebenso
deutlich genannt werden müssen. Im Umkehrschluß: Bei gleicher
Normativität des Urteils würde über Werner Eiert günstiger
zu befinden sein. Mit Recht wird die überragende Bedeutung
Karl Barths für theologische und kirchenpolitische Eindeutigkeit
gegenüber dem völkischen Nationalismus hervorgehoben
, aber die eigentümliche Wahrnehmungsschwäche des
„Demokraten" Barth (92) gegenüber anderen Formen des Tota-
litarismus (kommunistischer Prägung) übergangen und Barths
(Sozial-)Ethik, auch in Gestalt einer politischen Theologie, allzu
unbeschwert in die Erbfolge der „neuzeitlichen Freiheitsge-
schichte"(l 16) eingefügt. Zu fragen bleibt schließlich auch, ob
Befreiungs- und Feministische Theologie auf derselben Vergleichsebene
wie die großen System- und Theorieansätze behandelt
werden können.

Berlin Johannes Wirsching

Nethöfel, Wolfgang: Theologische Hermeneutik. Vom Mythos
zu den Medien. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag
1992. X, 346 S. m. Abb. 8« = Neukirchener Beiträge zur
Systematischen Theologie, 9. Kart. DM 79,-. ISBN 3-7887-
1400-X.

Dieses Buch, so meint der Autor, eröffne eine neue Phase der
Hermeneutik und löse die bisherige von ihm so genannte Hermeneutische
Theologie ab. Es sei „Wendezeit" auch in diesem
Fach der Systematischen Theologie. (284) Das alte Paradigma
sei zu dekonstruieren. (V)

Dazu bietet der Vf. acht Kapitel und einen Anhang an, dazu
einen zweiten Anhang, den Michael Biehl geschrieben hat.

Das erste Kapitel heißt „Die Geburt der Hermeneutik aus
dem Geist der Semiotik" und kennzeichnet deutlicher als der
Buchtitel, was hier Neues versucht wird: Theologie zu treiben
nach den Regeln dieser neuen Wissenschaft. Dabei geht der
Autor so vor, daß er zunächst etymologisch die Hermeneutik
vom Hermeneutes, dem Dolmetscher, und vom Gott Hermes
ableitet, was ja wohl semantisch gesehen nicht viel besagen
darf. Dann wird die allegorisierende Auslegungskunst des Hellenismus
rekapituliert, um von da aus die historisch-kritische
Exegese der Moderne zu kritisieren, „die das Textverstehen gerade
auf das historische Verständnis der Autorintention zusammenschnurren
" lasse (12). (Diese Gummi-Metapher liebt N. so
sehr, daß er sie gleich öfter verwendet.) Hier aber kann die
Semiotik helfen. Es gelte, die Hermeneutik zweistelliger Relationen
(die Sache und ihr Begriff) durch eine dreistellige
(Sache, Begriff und Wort) zu ersetzen. Aber das bedeute, die
übersprachlichen Sachverhalte im Blick zu haben. (21)

Im zweiten Kapitel „Der Mythos vom Mythos" soll sodann
mit Hilfe der Semiotik Mythos als heute noch präsentes traditionelles
Kommunikationsmedium erwiesen werden. Dabei
bleibt der Autor auf der Denkbahn, die er in seiner Dissertation
Strukturen existentialer Interpretation (vgl. ThLZ 112 [1987),
892ff.) vorgetragen hatte. Dort hatte er den Mythos-Begriff
soweit ausgedehnt, daß er den ganzen Johannes-Kommentar
von Rudolf Bultmann als einen Mythos bezeichnen konnte. Um
auch jetzt so verfahren zu können, muß N. die klassische
Mythos-Definition, die auf Gunke] zurückgeht (Mythos als heilige
Göttergeschichte), abwerten. Gegen das Verständnis des
Mythos als eines Gattungsbegriffs führt der Autor an, daß
erstens bei den Griechen ein Mythos alles zum Gegenstand
haben könne und daß zweitens der Mythos in verschiedenen
anderen Gattungen, z.B. in einer Tragödie, überliefert sein könne
. Beide Argumente dürften nicht überzeugen, da man beides
vermutlich für jegliche literarische Gattung wird nachweisen
können. Wer so kritisiert, hält offensichtlich überhaupt nicht
viel von der klassischen formgeschichtlichen Arbeit. Und er
wird sich fragen lassen müssen, warum er überhaupt einen solchen
Terminus wie „Mythos" aufnimmt, um ihn ganz anders zu
verwenden, als der ursprüngliche Sinn war. Man kann einen
Begriff auch so aufblasen, daß er platzt (um auch einmal eine
Gummi-Metapher zu verwenden).

Weil es nun früher jedenfalls bei den Mythen narrativ zuging,
paßt sich der Autor nun diesem Stil an. Er sprengt den Rahmen
wissenschaftlicher Sprache und erzählt eine fiktive Begegnung
zwischen einem Magister Martinus und einem freakigen Indianerjungen
vom Stamme der Kayapö aus dem tropischen Regenwald
. (31) Während der Magister aus der europäischen Tradition
zitiert „Ich bin, ich weiß nicht wer...", erzählt der kleine Wilde
seine Geschichte vom verlorenen Jungen, der mit dem Ära
und dem Jaguar leben lernt; eine Geschichte, die immer wieder
in der semiotischen Mythendeutung strapaziert wird. Diese
Story wird nun nach allen Regeln der Linguistik verkompliziert,
weil ja die in der Erzählung überdeckten Bedeutungen ans
Tageslicht gebracht werden müssen. Das hat sicher sein relatives
exegetisches Recht. Wenn aber im Waschzettel des Verlages
behauptet wird, das Buch könne auch als Lehrbuch genutzt
werden, so ist dem schon hier zu widersprechen. Wer nicht
schon vorher und aus anderen Büchern weiß, wie er semiotische
Begriffe, Formeln und Modelle zu lesen hat, der wird von N.
dazu nicht angeleitet.

Was nun die Ergebnisse der semiotischen Bemühung betrifft,
so ist auch hier wieder zur Mäßigung der Erwartungen zu raten.
Magister Martinus jedenfalls „blickt am Ende der Geschichte
mit geschlossenen Augen auf die leuchtende Arafeder und
denkt an die blutenden Kadaver der Gürteltiere auf der Transa-
mazonica. Ja, es ist Zeit. Die Kayapö müssen stark und er darf
wieder fröhlich werden." (47) Die semiotischen Berge haben
gekreißt und ein kleines grünes Mäuschen geboren. Ist der
Schutz der Gürteltiere nicht eine vorsemiotische Erkenntnis und
Verpflichtung?

Das dritte Kapitel fragt nach dem Neuen im Alten Testament,
das vierte nach dem Neuen im Neuen Testament. Hier wird
allerhand Bekanntes referiert. Da der Autor offensichtlich keinen
besonderen Wert legt auf die Unterschiede beider Testamente
, kann der Rez. sie zusammenfassen. (So heißen die Zwischenüberschriften
zum Alten Testament z.B.: „Israel als Wiege
christlicher Revolutionen" oder „Die Genesis des Messias".
Und unter dem Titel „Wie Israel den Heiden das Heil brachte"
wird von Christus geredet.) Der „Traditionsbruch" ist die Botschaft
schon des Alten Testaments wie des Neuen. Und mit I lil-
fe der semiotischen Abstraktion werden Unterschiede zwischen
den heiligen Büchern, aber auch gegenüber dem Islam relativiert
. „Christen stehen am Ende einer Kette revolutionärer
Transformationen. Alle Glieder werden im selben Feuer ge-