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Ausgabe:

1993

Spalte:

861-863

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Fischer, Hermann

Titel/Untertitel:

Systematische Theologie 1993

Rezensent:

Wirsching, Johannes

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Theologische Literaturzeitung 1 18. Jahrgang 1993 Nr. 10

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derherzustellen, tatsächlich Angriffe auf die menschliche Würde
und Reife waren. Wie alle schöpferischen Denker nötigt er uns,
unsere Tradition erneut anzuschauen und uns zu fragen, ob ,das'
ihre wirkliche Bedeutung ist. (30)

C. geht als Engländer und Nichtlutheraner zielstrebig dieser
Anfrage an uns und unsere Tradition nach. In überzeugender
Weise führt er vor, welche enorme Bedeutung Dietrich Bon-
hoeffer für sein theologisches Denken hat und an welchen
Orten dieser Mann ihm half, Antworten auf einzelne Fragen unserer
Zeit zu ergründen. Es scheint mir von enormer Bedeutung
zu sein zu erfahren, wie im Ausland über Dietrich Bonhoeffer
und die Wirkungsgeschichte seiner Theologie gedacht wird.

Dieses Buch ist eben kein Buch aus der ,Bonhoeffer-Indu-
strie' (239), sondern das Werk eines Betroffenen, der unumwunden
beschreibt, wie Aspekte der Theologie Dietrich Bonhoeffers
Bedeutung in heutiger Zeit erlangen.

Von sich selbst bekennt C: „Was am Ende zählt ist nicht, wer
Bonhoeffer war und was er tat, sondern seine Frage: ,Wer ist
Jesus Christus für uns heute?' Daß er die Frage so scharf stellte,
ist der Hauptgrund, ihn zu lesen, und dasselbe in unserer Zeit
und an unserer Stelle zu fragen, weist uns den produktiven Weg,
ihn zu lesen. (35)

Wir haben das Ende einer Diktatur erlebt. Vieles erscheint uns
fragwürdig und bisweilen sogar sinnlos. In der Zerrissenheit unserer
Welt ist es meines Erachtens angebracht, sich auch im vereinten
Deutschland am theologischen Denken Dietrich Bonhoeffers
neu zu orientieren, der in der Sinnlosigkeit seiner Zeit Antworten
auf Fragen gefunden hat, die sich ihm unter dem Studium des
Alten und Neuen Testamentes aufdrängten. C. geht als profunder
Kenner Bonhoefferscher Theologie diesen Weg. Und es ist ein
spannendes Unternehmen kennenzulernen, wie er mit Bonhoeffer
argumentiert, um auf aktuelle theologische und politische Fragen
Antworten zu versuchen. Wer mehr wissen will über den humanistischen
und theologischen Freiheitsbegriff, die Gemeinsamkeiten
und die Gegensätze dieses widersprüchlichen Begriffs, der muß
unbedingt „Freisein wozu?" gründlich lesen.

Das Werk veranschaulicht auch eindringlich, daß es heute
dringender denn je geboten ist, Theologie als ökumenisches
Geschehen zu begreifen und zu betreiben. Wenn wir dies tun, ist
nach dem Fall vieler osteuropäischer Diktaturen die weitere Existenz
der Welt und der Menschheit möglich. Wenn wir es versäumen
, wird die Welt und ihre Bewohner in Nationalismus,
Anarchismus und Chaos vergehen. Viel Zeit zum Entscheiden
bleibt nicht mehr. Wir müssen uns jetzt über die Konsequenzen
unseres Tuns im klaren sein.

Mir hat das Buch: „Freisein wozu?" geholfen, Orientierungspunkte
und Denkansätze für die unruhige Zeit, in der wir leben,
zu finden. Die kritische angelsächsische Auseinandersetzung
mit speziellen Aspekten Bonhoeffers Theologie macht Mut,
gemeinsames Leben zu wagen.

Mein besonderes Interesse galt dem abgedruckten Rundfunk-
Interview, das der Autor mit Eberhard und Renate Bethge
geführt hat. „Es war keine Schande: Die Bethges erinnern sich"
(37ff). Diese Erinnerungen können uns aufhelfen, den Sinn des
eigenen Lebens neu zu ergründen. Dies scheint mir gegenwärtig
dringend geboten.

Satow Ulrich Müller

Fischer, Hermann: Systematische Theologie. Konzeptionen und
Probleme im 20. Jahrhundert. Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer
1992. 254 S. kl.8° = Urban-Taschenbücher, 426. Grundkurs
Theologie, 6. Kart. DM 26,-. ISBN 3-17-010027-0.

1. Nachdem der Vf. schon 1983 in dem Sammelband „Theologie
im 20. Jahrhundert" (hg. von Georg Strecker) eine größere

Studie zum Thema veröffentlicht hat, legt er nun eine überarbeitete
und erweiterte Neufassung in Buchform vor. Bücher dieser
Art sind nicht eben häufig. Schon die hier auf engem Raum
erzielte Informationsdichte ist bemerkenswert. Treffliche Personal
- und Problemportraits sowie zahlreiche Mitteilungen aus den
Quellen, auch aus weniger bekannten, lassen den Leser an der
bewegten Geschichte der Evangelischen Theologie unseres
Jahrhunderts teilnehmen. Der hohe Dokumentationsstandard
und die reichen, wohlgeordneten Schrifttumsnachweise können
auch dem Spezialisten hilfreich sein. Der Vf. befleißigt sich
einer moderaten Diktion. Seine abgewogene und behutsame
Darstellung, die um Gerechtigkeit auch für Alternativen bemüht
bleibt, ist angesichts der zum Teil zeitgeschichtlich nahen Sachverhalte
besonders dankenswert. Der Vf. weiß, „daß sich neue
Theorien nicht immer durch die bessere Lösung alter Problemlasten
durchsetzen, sondern auch deshalb, weil die Vertreter alter
Theorien aussterben" (12) und - so könnte man hinzufügen -
weil Neues oft nur angesichts einer Diskurserschöpfung hochkommt
.

Die unvermeidlichen Grenzen seiner Darstellung hat der Vf.
gleich zu Beginn genannt (14). Eine zeitliche Grenze, geradezu
eine „Zäsur", sieht er mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges
gegeben, eine andere, die konfessionelle darin, daß die römischkatholische
und auch die außereuropäische Theologie ausgespart
bleiben müssen, weil es zu ihrer Darstellung anderer Prinzipien
der Rekonstruktion bzw. besonderer Kompetenz bedürfte.
So wird in einem ersten Hauptteil der „Neueinsatz" der (evangelischen
) Theologie nach dem Ersten Weltkrieg behandelt (Dialektische
Theologie, Religiöser Sozialismus, Lutherrenaissance)
und bei allem Epochcnwandel die Problemkontinuität hervorgehoben
. Ein zweiter Hauptteil schildert den politisch-kirchenpolitischen
Konflikt, der die theologische Entwicklung seit der
nationalsozialistischen Machtübernahme bestimmt und sie um
die Signalworte „Barmen" und „Ansbacher Ratschlag" polarisiert
. Der dritte Hauptteil ist der Darstellung der kirchlichen
Dogmatik Karl Barths gewidmet, wobei deren Genese und Ausstrahlung
, bis in Neuansätze der (Sozial-)Ethik, deutlich gemacht
wird. In einem vierten Hauptteil wird die „andere Aufgabe
" der Theologie geschildert, wie sie gegenüber dem Christo-
zentrismus Karl Barths schon von Emil Brunner skizziert worden
war (1929) und dann in unterschiedlichen Ansätzen (Rudolf
Bultmann, Friedrich Gogarten, Paul Althaus, Werner Eiert) aufgegriffen
, aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg, in Gestalt
umfassender Darstellungen gelöst wird. Der fünfte Hauptteil
behandelt die Systematische Theologie nach dem Zweiten Weltkrieg
, wobei vor allem Paul Tillich, Helmut Thielicke, Gerhard
Ebeling und, in Retrospektive, auch Dietrich Bonhoeffer besprochen
werden. Ein sechster Hauptteil sieht die Theologie, einsetzend
bei ihrer wiederentdeckten historischen Dimension, „auf
neuen Wegen", indem es nun, in Auseinandersetzung mit Karl
Barth, zur Neubegründung heilsgeschichtlicher Theologie
(Wolfhart Pannenberg), zu theologisch-eschatologischen Ansätzen
(Jürgen Moltmann) und deren Ausarbeitung als politischer
Theologie kommt. Ferner nimmt der Vf. neueste befreiungstheologische
und feministische Ansätze in den Blick. In
einem siebenten Hauptteil schließlich wird eine Definition der
Systematischen Theologie versucht. Der Vf. sieht eine besondere
theologische Gefährdung derzeit in der Beziehungslosigkeit
von Glaube und Theologie und meint, hier zu neuer „Elementarisierung
" mit entsprechender einheitsstiftender Theoriebildung
aufrufen zu sollen.

2. Weniger im einzelnen als durch die Gesamtanlage fordert
das Werk auch zu An- und Gegenfragen heraus, von denen ich
nur drei ausdrücklich stellen möchte.

2.1. Die Darstellung der Theologie unseres Jahrhunderts
erscheint insgesamt zu isoliert. So wirken manche Theorieansätze
ganz neu, ohne es doch faktisch zu sein, was sich etwa an der