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Ausgabe:

1993

Spalte:

64-65

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kramer, Rolf

Titel/Untertitel:

Soziale Gerechtigkeit - Inhalt und Grenzen 1993

Rezensent:

Bedford-Strohm, Heinrich

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Theologische Literaturzeitung 1 IX. Jahrgang 1993 Nr. 1

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auf die Themen „Naturrecht" und „Schöpfungs- und Erhaltungsordnungen
" einzugehen (23-47). Die folgende Diskussion
um „Ethik als neuzeitliche Wissenschaft" behandelt komplexe
Fragen der Deutung der Moderne im engeren und weiteren
Umkreis von Marx bzw. Max Weber, ausgehend von der Theorie
-Praxis-Problematik und in Orientierung an Fragestellungen
wie Aporien bei J. Habermas (49-74). Ein „Exkurs zur Geschichte
der abendländischen Ethik" vom altgriechischen Denken
bis zum 20. Jh. (75-96) führt zu „Einsichten aus der Geschichte
der abendländischen Ethik", die wohl bewußt plakativ
gehalten sind (z.B. in der Charakterisierung der „Flügel", in die
die evangelische Ethik auseinanderfällt: „hier Barmen, dort
Volkskirche, hier Wort Gottes, dort Freiheit und Autonomie")
und zu vertiefendem Studium im Blick auf Bibel, Reformation
und weiterer Literatur auffordern (97-103). Ob der darauf folgende
Abschnitt „Die christologische Grundlegung der Ethik -
eine Antwort auf das Scheitern des Projekts der Aufklärung"
noch zu den Einsichten aus der Geschichte der Ethik zu rechnen
ist, läßt sich insofern nicht ganz klar erkennen, weil der
dafür als Kronzeuge aufgerufene Nietzsche bisher nicht erörtert
, gleichwohl aber als repräsentativ für das Scheitern der
Aufklärung vorgeführt wird. Als Randglosse sollte allerdings
nicht unerwähnt bleiben, daß Jürgen Habermas, der den Begriff
.Projekt der Moderne' geprägt („Die Moderne - ein unvollendetes
Projekt" 1980, Rede bei der Entgegennahme des Adorno-
Preises, in: Kleine politische Schriften I-IV, Frankfurt, 1981,
444-464) und dessen Krise mit Nietzsche in Verbindung gebracht
hat, festhält, „daß wir eher aus den Verirrungen, die das
Projekt der Moderne begleitet haben, aus den Fehlern der verstiegenen
Aufhebungsprogramme lernen, statt die Moderne
und ihr Projekt selbst verloren geben sollten." (460)

Nach einer kurzen Zwischenüberlcgung (Abschn. 7, 1170,
in der der Vf. in sieben Thesen Ertrag und weitere Richtung
des Buches darlegt, setzt der 8. Abschnitt noch einmal neu an
mit der Frage „Eine Ethik für alle Menschen oder nur für Christen
?" (1 19ff) In einer Verbindung von Luther, Barth und Bon-
hoeffer soll das „Besondere christlicher Ethik" als „Ermutigung
zu einem Entdeckungsprozeß" identifiziert werden im
Blick auf die Frage „Was heißt Mensch-sein, was heißt Vernunft
heute?" (133). Gesetz und Evangelium sowie Zwei-Reiche
-Lehre werden als „Theologische Themen, die bei der Begründung
von Normen zu berücksichtigen sind" (133ff) kompendiarisch
behandelt und durch weitere Themen wie Naturrecht
und Gerechtigkeit ergänzt. Eine daran anschließende Diskussion
des Liebesgebotes (9. Abschn. 140ff) zeigt dessen prinzipielle
Bedeutung für die christliche Ethik, die jedoch nicht
den Charakter eines „Deduktionsprinzips" (147) habe.

Die nunmehr folgenden Themenkreise beziehen sich auf
Fragestellungen der allgemeinen Ethik: Die Lehre vom Guten
(153ff), Tugendlehre (182ff) und Ptlichtenlehre (197ff). Dabei
werden die unterschiedlichsten Aspekte aus der Tradition der
philosophischen Ethik bzw. aus Ethiktheorien des 20. Jh.s in
Kurzform referiert und der jeweiligen Fragestellung zugeordnet
sowie mit biblisch-theologischen Materialien, Reflektionen und
daraus folgenden Urteilen verbunden. Der facettenreiche Gang
der Darstellung folgt keiner erkennbaren Systematik und lädt
den Leser insofern dazu ein, die Verknüpfung der verschiedenen
Ebenen der Betrachtung selbständig vorzunehmen. So bieten
auch die folgenden beiden Abschnitte über „Ethos und
Ethik, begründet im Menschsein?" (14. ABschn. 21311) und
über „Wie können wir ein verantwortliches sittliches Urteil bilden
?" (15. Abschn. 229ff) jeweils noch einmal neue Ansätze
mit eigener Thematik (z.B. „Fünf Aufgaben der theologischen
Ethik" 214ff; Wege der „Sittlichen Urteilsfindung" 229ff). Es
folgt ein Katalog von „Fragen zur Ertragssicherung" (240IT),
die auf die Abschnitte des Buches bezogen sind.

Eine vorangestellte schematische Skizze (Xllf) zeigt zudem
vier verschiedene Wege auf, wie dieses Buch neben dem vorgezeichneten
Gang auch studiert werden könnte.

Insgesamt wird das Bemühen des Vf.s erkennbar, in dein zerklüfteten
Feld ethischer Theorien mit einer theologischen Pflugschar
Furchen zu ziehen, die viele andere Spuren kreuzen, dann
auch wieder mit ihnen parallel laufen. Da das Feld selbst, auf
dem die 'arbeitende Ethik' zugange ist, allen gemeinsam ist,
stößt sich die Pflugschar immer wieder an Steinen, die durch die
Arbeit anderer der eigenen Spur in den Weg gelegt sind, wodurch
dann auch manche Abweichungen von der eigenen Spur
nötig werden. Ein Arbeitsbuch also, das den Leser am Prozeß
seiner Erarbeitung teilnehmen läßt und ihm die eigene Bearbeitung
des Feldes nicht durch ein ergebnisreiches Gesamtmuster
des Feldes abnimmt.

Der Anspruch, Barths Ethik müsse „für eine veränderte Zeit
noch einmal neu erarbeitet werden" (131) wird zwar an vielen
einzelnen Stellen des Buches in Erinnerung gebracht, in der
Andeutung theologiegeschichtlicher Zusammenhänge sowie
insbesondere in Urteilen gegenüber anders konzipierten Entwürfen
philosophischer und theologischer Ethik; im Aufbau
und in der Durchführung bleibt dieser Anspruch aber doch eher
im Hintergrund, tritt jedenfalls nicht als syslematisch-struktu-
rierender Gedanke hervor. Wird man so eine in sich geschlossene
Konzeption der Ethik in diesem Buch auch vermissen, so
kann man demgegenüber die Mannigfaltigkeit der angesprochenen
Themen und Fragestellungen hervorheben, die die Studierenden
zu eigener Auswahl einladen soll.

Die als Hilfestellung für die Examensvorbereitung gedachte
Zusammenstellung und Kommenticrung ethischer Entwürfe,
die. wie bereits erwähnt, das Buch beschließt, könnte den ihr
zugedachten didaktischen Zweck vielleicht besser erfüllen,
wenn sie statt in der alphabetischen Folge der Autoren nach historischen
und sachlichen Kriterien erfolgt wäre. Die Standardaufgabe
Nr. 1 „Informieren Sie sich über den Verfasser", mit
der die Fragen zur Erarbeitung jeweils eingeleitet werden, sollte
- im Blick auf den Autor - durch den Hinweis auf sein Buch
„Die Ethik des Protestantismus von der Reformation bis zur
Gegenwart" (Gütersloh 1989) erleichtet werden.

München Trutz Rendtorff

Kramer, Rolf: Soziale Gerechtigkeit - Inhalt und Grenzen. Berlin
: Duncker & Humblot 1992. 123 S. gr.8<> = Sozial wissenschaftliche
Schriften, 18. Kart. DM 86,-. ISBN 3-428-07343-6.

Kaum ein ethischer Begriff wird in aktuellen Auseinandersetzungen
so häufig verwendet wie der Begriff der „sozialen
Gerechtigkeit". Umso erstaunlicher ist die Tatsache, daß in der
ethischen Literatur kaum Arbeiten zu finden sind, die zu einer
Klärung dieses schillernden Begriffes verhelfen können. Allein
schon aufgrund dieser Forschungslücke ist Roll Kramers Abhandlung
zur sozialen Gerechtigkeit ein willkommener Beitrag
zur ethischen Diskussion.

K. stellt jeweils auf etwa zehn Seiten zehn Konzepte vor, die
zur inhaltlichen Füllung des Begriffs der Gerechtigkeit bzw.
sozialen Gerechtigkeit von Relevanz sind (über die Kriterien
zur Auswahl dieser zehn Konzepte wird nicht explizit reflektiert
). Es handelt sich zunächst um fünf theologische oder in
der The-ologie besonders rezipierte Positionen: den Gerechtigkeitsbegriff
in der Bibel, bei Aristoteles, bei Thomas von Aqu-
in, in der katholischen Soziallehre und in der Ökumene. Es folgen
dann vier philosophische Positionen: Friedrich August von
Hayek, John Rawls, Robert Nozick und James Buchanan.
wobei die Aufnahme der Theorie von Haycks schon zeigt, daß