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Ausgabe:

1993

Spalte:

831-832

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Schäfer, Peter

Titel/Untertitel:

Der verborgene und offenbare Gott 1993

Rezensent:

Wächter, Ludwig

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Seite 1

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831

Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. 10

832

Schäfer, Peter: Der verborgene und offenbarte Gott. Hauptthemen
der frühen jüdischen Mystik. Tübingen: Mohr 1991.
XII, 186 S. 8«. Kart. DM 37,-. ISBN 3-16-145812-5.

Der Vf., durch seine groß angelegten Editionen der Hekhalot-
Literatur als hervorragender Kenner dieses Gebietes ausgewiesen
, sucht, nachdem er sich in vieljähriger intensiver Arbeit vor
allem mit der literarischen Seite der Merkava-Mystik beschäftigt
hat, ihre wesentlichen Intentionen und Ziele auf dem Hintergrund
des rabbinischen Judentums zu erfassen.

Eine wichtige Vorarbeit hierfür hat er bereits in den „Hekha-
lot-Studien" (Tübingen 1988) geleistet, die ja nicht nur literarisch
orientiert sind, sondern auch - besonders die an den
Schluß gestellten Aufsätze - auf inhaltliche Fragen eingehen.

Im vorliegenden Buch analysiert der Vf. die einzelnen Ma-
kroformen der Hekhalot-Literatur, Hekhalot Rabbati, Hekhalot
Zutarti, Ma'ase Merkava, Merkava Rabba und 3. Henoch, wobei
er jeden dieser Textkomplexe in gleicher Weise nach seinen
Aussagen über Gott, Engel und Menschen befragt. Es zeigt sich
hierbei, daß bei gemeinsamer Grundanschauung jeweils andere
Aspekte hervorgehoben werden, selbst innerhalb der verschiedenen
Makroformen.

Abschließend (134-162) faßt er die Ergebnisse zusammen,
wobei er sich immer wieder auf die einander entgegengesetzten
Positionen von G. Scholem und D. Halperin bezieht. Mittelpunkt
des theologischen Kosmos der Hekhalot-Literatur ist, wie
ausgeführt wird, Gott als der auf dem Thron der Herrlichkeit
thronende König. Zentral ist dieser Aspekt in Hekhalot Rabbati
mit seinen Königshymnen, welche die Schönheit des göttlichen
Angesichts als Zentrum eines bewegten himmlischen Geschehens
preisen, an dem der zum Thron der Herrlichkeit aufgestiegene
yored merkava teilnimmt. Auch in Hekhalot Zutarti, ist
dieser Vorstellungskomplex enthalten, freilich nur in einer
redaktionellen Schicht; in Ma'ase Merkava, und Merkava Rabba
wird er nur erwähnt und mit einem anderen zentralen Thema
verknüpft, den göttlichen Namen, die dem Menschen in der
Beschwörung Macht über die Engel, ja über Gott geben.

Die Beziehung des Menschen zur himmlischen Welt bewegt
sich überall zwischen den Polen der Himmelsreise und der
magisch-theurgischen Beschwörung. Die Himmelsreise in ihrer
reinen Form, die Scholem als das Zentrum der Hekhalot-Literatur
herausgestellt hatte, findet sich nur in Hekhalot Rabbati:
Himmelsreise des yored merkava, Prüfung des Adepten, Torakenntnis
als Entreebillet, Vorzeigen der Siegel, sehnsüchtiges
Erwarten des Adepten durch Gott, sein Preis als Erwählter Israels
, der durch seine Himmelsreise die Gemeinschaft zwischen
Gott und Israel neu konstituiert, die sich in der Liturgie immer
neu realisieren kann. Hekhalot Zutarti dagegen bringt zwar in
der redaktionellen Schicht §§ 407-426 einen ähnlichen Aufstiegsbericht
; er kulminiert aber am Ende in einer Beschwörung
. Der Überlieferungskomplex der Beschwörung findet sich
u.a. im Tora-Mythus von Hekhalot Rabbati: Israel nimmt die
Tora gegen den Widerstand der Engel in Besitz, und zwar nicht
durch Lernen, sondern mit Hilfe magischer Mittel.

Darüber, wo und wie zwischen den beiden Polen der Himmelsreise
und der magisch-theurgischen Beschwörung die Akzente
zu setzen sind, herrscht ein reger wissenschaftlicher Meinungsstreit
; denn es hängen damit Fragen der Datierung und der
Bestimmung des ursprünglichen „Sitzes im Leben" zusammen.
Es fragt sich u.a.: Liegen der Merkava-Mystik originäre ekstatische
Erfahrungen zugrunde oder ist sie Ausdruck eines „magischen
Rituals", das nicht notwendig mit ekstatischen Praktiken
verbunden ist?

Scholem, der sich für die erstere Deutung entscheidet, betont
zugleich das sowohl inhaltliche als auch zeitliche Primat der
Himmelsreise: So wie Gott als transzendenter König das Gottesbild
der Hekhalot-Literatur beherrscht, dominiert in der

Beziehung des Menschen zu Gott die Himmelsreise. Je mehr
„Himmelsreise", desto ursprünglicher und früher, je mehr
„Beschwörung", desto sekundärer und später.

Der Vf. vertritt die Meinung, diese einseitige Sicht sei nicht
zu halten. Genauso entschieden wendet er sich gegen die gegenteilige
Position von Halperin, der die Beschwörung nicht nur
zum Zentrum der Hekhalot-Literatur erklärt, sondern sogar die
gesamte Hekhalot-Literatur ausschließlich von der Beschwörung
her versteht und dies auch noch soziologisch begründet,
was Schäfer zu Recht widerlegt.

Anders als Scholem nimmt der Vf. keine ekstatischen Erfahrungen
im Zusammenhang mit der Himmelsreise an. In der Hekhalot
-Literatur stünden keine Hinweise darauf, wie die Himmelsreise
konkret durchgeführt wurde und ob ekstatische Erfahrungen
damit verbunden waren. Vieles spreche dafür, daß Himmelsreise
und Beschwörung als rituell-liturgische Akte verstanden
wurden.

Scholem ging davon aus, daß die in der rabbinischen Literatur
nur dunkel angedeuteten Traditionen der esoterischen „Disziplin
" ma'ase merkava in der Hekhalot-Literatur in ihrer ganzen
Fülle und Ursprünglichkeit zum Vorschein kommen. Halperin
hingegen leugnet einen solchen Zusammenhang, der für Esoterik
sprechen könnte und eine Frühdatierung wahrscheinlich machen
würde, indem er der Beschwörung Priorität zubilligt, von der aus
sich nicht so leicht eine Brücke zu den rabbinischen Zeugnissen
schlagen läßt. In Beschwörung und Magie, die so stark die Hekhalot
-Literatur geprägt haben, sieht er einen Ausdruck der Rebellion
des „kleinen Mannes, der sich damit der Übermacht der
„herrschendne Klasse" der Tora-Gelehrten entgegenstellt.

Der Vf. wendet dagegen mit Recht ein, daß alle Gruppen des
spätantiken Judentums von der Revolution des Weltbildes
durch das Eindringen der Magie erfaßt worden waren. In der
Hekhalot-Literatur lasse sich gewiß die Tendenz feststellen, daß
jeder an der durch Himmelsreise und Beschwörung vermittelten
Erfahrung teilhaben kann. Aber das sei in den jeweiligen Makroformen
unterschiedlich ausgeprägt: am stärksten in Merkava
Rabba, am geringsten in Hekhalot Zutarti mit seiner deutlichen
Betonung der Geheimlehre. Daraus und durch den pseudepigra-
phischen Charakter sämtlicher Makroformen folge, daß die
Hekhalot-Literatur sowohl esoterisch als auch exoterisch sei.
Damit ist gesagt, daß der Trägerkreis nicht bzw. nicht nur in
den breiten Volksschichten zu suchen ist.

Auf der Grundlage der vom Vf. vorgenommenen Reihenfolge
der untersuchten Makroformen ergibt sich ein in sich schlüssiges
Bild der Entfaltung der Hekhalot-Traditionen: von der
"reinen,, Form der Himmelsreise über verschiedene Mischformen
bis hin zur überwältigenden Dominanz der Beschwörung
in Merkava Rabba. Das würde für eine Frühdatierung sprechen,
etwa parallel zur Niederschrift des Talmuds. Doch hält sich der
Vf. in seinem Urteil zurück, da die postulierte Reihenfolge der
Makroformen noch sehr vorläufig sei.

Berlin Ludwig Wächter

Stemberger, Günter: Einleitung in Talmud und Midrasch.

8., neubearb. ALufl. München: Beck 1992. 367 S. 80 = Beck-
Studium. Kart. DM 44,-. ISBN 3-406-36695-3.

Als vor über 100 Jahren Hermann Leberecht Stracks Einleitung
in den Talmud herauskam, war kaum zu erwarten, daß
damit der Grundstein eines Werkes gelegt worden war, das über
ein Jahrhundert Bestand haben würde. Die Erstauflage von
1887 war ein Sonderabdruck aus der Real-Encyklopädie für
protestantische Theologie und Kirche, 2. Aufl. Bd. XVIII und
wurde von deren Verlag J. C. Hinrichs Leipzig herausgebracht.
Es erschienen unter gleichem Namen und mit erweitertem Titel